Samstag, 22. November 2014

Hat Gott sein Volk verstoßen? (Ps 44:1-27)

Text

1
"Eine Unterweisung der Söhne Korach, vorzusingen." 2 Gott, wir haben mit unsern Ohren gehört, / unsre Väter haben's uns erzählt, was du getan hast zu ihren Zeiten, in alten Tagen. 3 Du hast mit deiner Hand die Heiden vertrieben, sie aber hast du eingesetzt; du hast die Völker zerschlagen, sie aber hast du ausgebreitet. 4 Denn sie haben das Land nicht eingenommen durch ihr Schwert, und ihr Arm half ihnen nicht, sondern deine Rechte, dein Arm und das Licht deines Angesichts; denn du hattest Wohlgefallen an ihnen. 5 Du bist es, mein König und mein Gott, der du Jakob Hilfe verheißest. 6 Durch dich wollen wir unsre Feinde zu Boden stoßen, in deinem Namen niedertreten, die sich gegen uns erheben. 7 Denn ich verlasse mich nicht auf meinen Bogen, und mein Schwert kann mir nicht helfen; 8 sondern du hilfst uns von unsern Feinden und machst zuschanden, die uns hassen. 9 Täglich rühmen wir uns Gottes und preisen deinen Namen ewiglich. "SELA". 10 Warum verstößest du uns denn nun / und lässest uns zuschanden werden und ziehst nicht aus mit unserm Heer? 11 Du lässest uns fliehen vor unserm Feind, dass uns berauben, die uns hassen. 12 Du gibst uns dahin wie Schlachtschafe und zerstreust uns unter die Heiden. 13 Du verkaufst dein Volk um ein Nichts und hast mit ihrem Kaufgeld nichts gewonnen. 14 Du machst uns zur Schmach bei unsern Nachbarn, zu Spott und Hohn bei denen, die um uns her sind. 15 Du machst uns zum Sprichwort unter den Heiden, lässt die Völker das Haupt über uns schütteln. 16 Täglich ist meine Schmach mir vor Augen, und mein Antlitz ist voller Scham, 17 weil ich sie höhnen und lästern höre und muss die Feinde und Rachgierigen sehen. 18 Dies alles ist über uns gekommen; und wir haben doch dich nicht vergessen, an deinem Bund nicht untreu gehandelt. 19 Unser Herz ist nicht abgefallen noch unser Schritt gewichen von deinem Weg, 20 dass du uns so zerschlägst am Ort der Schakale und bedeckst uns mit Finsternis. 21 Wenn wir den Namen unsres Gottes vergessen hätten und unsre Hände aufgehoben zum fremden Gott: 22 würde das Gott nicht erforschen? Er kennt ja unsres Herzens Grund. 23 Doch um deinetwillen werden wir täglich getötet und sind geachtet wie Schlachtschafe. 24 Wache auf, Herr! Warum schläfst du? Werde wach und verstoß uns nicht für immer! 25 Warum verbirgst du dein Antlitz, vergissest unser Elend und unsre Drangsal? 26 Denn unsre Seele ist gebeugt zum Staube, unser Leib liegt am Boden. 27 Mache dich auf, hilf uns und erlöse uns um deiner Güte willen!


Kommentar

Zusammenfassung

Gottes Gnade, nicht eigene Kraft waren der Grund früherer Siege, so lehrt dieser Weisheitspsalm das Volk Gottes anhand der Überlieferung von der Landnahme - und das aus gutem Grund: Wegen seines Glaubens verfolgt, erleidet das Volk Gottes Niederlagen, Spott und Hohn in solchem Ausmaß, dass es scheint, Gott habe sie vergessen. So lenkt denn der Psalm, in der Bitte um Erlösung des Volkes, dessen Besinnung auf das verlässlichste Gut: die Gnade und Barmherzigkeit Gottes: sein gütiges Wohlgefallen.


Struktur

1 Der von den Korahleviten verfasste Psalm dient der Unterweisung der Gemeinde

2-4
Zu Beginn preist der Psalmisst Gottes Taten bei der Landnahme unter Josua

4-9 Die Gnade ihres lobenswerten Gottes, nicht eigene Kraft, war und ist ihre Hilfe

10-13 Klage über scheinbare Gottesferne: Niederlage, Plünderung und Vetreibung

14-17
Schmach & Schande, Spott & Hohn der heidnischen Nachbarn sind die Folge

18-20 Vernichtung und Verzweiflung machen keinen Sinn: Das Volk war nicht gottlos

21-23
Gott ist Zeuge: sein Volk ist treu und wird nur um des Glaubens willen verfolgt

24-27 Eindringlichstes Gebet: Gott möge 'erwachen' und sie aus Gnaden erlösen


Inhalt

1 Dieses Psalmlied soll der Gemeinde Gottes als Gesang zur Unterweisung vorgetragen werden. Die als Komponisten und Dichter genannten "Söhne Korach" sind dabei nicht die leiblichen Söhne Korachs, welcher durch ein Gottesurteil das Leben verlor (vgl. 4. Mose 16:32). Es sind die Korahleviten, deren Amtsnachfolger.

2-4 Der vorliegende Psalm spricht zu Beginn von Gottes Großtaten aus längst vergangener Zeit (*), die in Form von Erzählungen von den Vätern an die Söhne und von diesen an wieder deren Söhne überliefert wurde und welche von Gottes mächtigem Handeln während des Einzugs des Volkes Israel ins gelobte Land berichtet: von der Zerschlagung und Vertreibung der heidnischen Völker und der Einsetzung Israels, wie wie im Buch Josua beschrieben sind.

4-9 Dabei weist dieser zur Erlangung von Weisheit gedichtete Psalm gleich zu Beginn auf den Schlüssel zur Wahrheit hin: Nicht durch eigene Waffengewalt oder menschliche Stärke wurden die Schlachten vor Alters her gewonnen, sondern durch Gottes Stärke und vor allem aufgrund Seiner Gnade. Sein gnädiges Wohlgefallen und seine Barmherzigkeit waren es, Seine Allmacht und die strahlende Herrlichkeit  Seines Angesichts (vgl. Mt 17:2, Offb 1:16), welche die Landnahme begründeten.

Ganz persönlich bekennt es der Psalmist - und mit ihm die singende Gemeinde - Wer Der ist, von Dem sie sich Beistand versprechen: Es ist ER, der Allmächtige, der ewige König (1Tim 1:17). Doch trotz Seiner Allmacht und Königsherrschaft ist Er nicht ein fremder Gott oder ein ferner König. Dem Psalmisten ist Er vertraut; Er ist ihm lieb und teuer. Er nennt ihn "Du", "*mein* König" und "*mein* Gott".

Mit Ihm und durch Ihn will er, gemeinsam mit Gottes Volk, diejenigen stürzen, die ihnen feindlich gesinnt sind. In Seinem Auftrag will er diejenigen unterwerfen, die gegen ihn und sein Volk in den Kampf ziehen. Und - wie seine Vorfahren - will er sich nicht auf seine eigene Waffengewalt verlassen, sondern in dem Wissen und Bewusstsein kämpfen, dass es ER ist, der herrliche und allmächtige und gnädige Gott, der für sie eintritt und ihren Feinden wehrt und diejenigen vernichtet, die ihn und Sein Volk hassen.

Diese unverdiente Liebe und freundliche Gnade, diese barmherzige Hilfe und treue Fürsorge Gottes drängen die Seele des Psalmisten und der singenden Gemeinde zum täglichen Lob ihres Gottes und dazu, Seinen herrlichen Namen in alle Ewigkeit zu preisen.

10-13
Mit dem Schwenk der Blickrichtung, weg von der glorreichen Vergangenheit hin zur leidvollen Gegenwart, ändert sich die Färbung der Worte unseres Psalms. Aus anbetendem Dank und herzlichem Lob werden fragende Klagen und schmerzvolle Feststellungen:

Die Truppen Israels unterliegen im Gefecht und werden besiegt und es sieht so aus, als seien sie von Gott verlassen. Sie werden in die Flucht geschlagen und der Feind, voller Hass gegen Gottes Volk, plündert und raubt den Besitz der Israeliten. Diese leidvolle Erfahrung lässt den Psalmisten mit dem Eindruck zurück, Gott habe ihn und sein Volk verstoßen (was doch nicht sein kann, siehe 1Mo 17:7, Ri 2:1, 1Chr 16:17, Ps 105:8ff, Ps 111:5.9, Jes 55:3, Mt 28:20, Rö 8:35-39, etc.).

Angesichts des Leidens stellt der Psalmist, wie schon Hiob vor ihm (Hi 3:11ff) und die Jünger nach ihm (Joh 9:1ff), die Frage nach dem 'Warum?': Aus der menschlichen Perspektive, aus unserer so begrenzten und oft selbstsüchtigen Sicht scheint es so sinnlos zu sein, was ihnen widerfährt: Das Volk Gottes wird abgeschlachtet wie Schafe und unter die Heiden zerstreut. Was ist der Sinn, was ist das Ziel dieses Leidens? Was hat, so fragt der Psalmist, Gott damit gewonnen? Nichts, so scheint es; als hätte Er sein Volk in die Sklaverei verkauft, ohne dass Er zumindest einen Kaufpreis dafür zurück erhalten hätte.

14-17 Doch nicht nur das äußere Leid setzt dem Psalmisten zu, auch dessen Folgen betrüben das Innere seiner Seele: aufgrund der Schande seiner Niederlage ist das Volk Gottes nun auch der Verachtung, dem Hohn und dem Spott seiner heidnischen Nachbarländer ausgeliefert, die dessen Niederlage mit abfälligem Kopfschütteln und beschämenden Spottversen quittieren.

Jeden Tag aufs Neue steht dem Psalmisten sein erniedrigtes Ansehen vor Augen; jeden Tag aufs Neue treibt ihm die Niederlage die Schamesröte ins Gesicht. Denn jeden Tag aufs Neue muss er den Hohn und die Lästerungen seiner Feinde ertragen; den Anblick derer, die allein Vergeltung im Sinn haben.

18-20 Und wieder setzt das Unverständnis ein, ist doch kein Sinn-Zusammenhang zwischen dem erfahrenen Leid und eigener Schuld zu erkennen: was über das Volk hereingebrochen ist, das weiß der Psalmist, hat ganz gewiss keinen Grund in einer etwaigen Gottlosigkeit des Volkes Israel selbst. Sie haben Gott noch stets in ihren Gedanken und haben Ihn, der in Abraham den Bund mit Ihnen schloss (1Mo 15:18), nicht verlassen. Noch immer sind sie mit ihren Herzen bei Ihm und tun nach Seinen Geboten. Und dennoch werden sie in unwirtlicher Wildnis vernichtend zerdroschen und erleiden schmerzvoll, dass Hoffnungslosigkeit sich - wie ein dunkler, schwerer Vorhang - über sie senkt.

21-23 So gewiss ist sich der Psalmist über die Schuldlosigkeit seines Volkes, dass er Gott selbst zu seinem Zeugen beruft: Hätte Er, der Allwissende (Ps 139:1-3), der unsere Gedanken von ferne und unsere Herzen kennt (1Kö 8:39, Lk 16:15b, Apg 1:24 und 15:8), nicht bemerkt, wenn sein Volk Ihm den Rücken gekehrt und fremde Götzen angebetet hätte? Das kann der Grund nicht sein. Und so bleibt nur noch die eine Alternative: um ihres Gottes willen werden sie täglich zu Tode gebracht und um ihres Glaubens willen, sieht man sie an, wie Schlachtvieh.

24-27 Und so ruft der Psalmist samt der ganzen Gemeinde laut zu Gott, der doch nicht schläft noch schlummert (Ps 121:4), so eindringlich, als schliefe Er doch: Der Herr der Heerscharen möge von Seinem Schlaf erwachen. Verwundert, ja fast trotzig wie ein Kind rütteln sie ihn wach mit der Frage nach dem 'warum': Wie kann Er schlafen und Seinem Volk Seine tröstende Gegenwart entziehen? Wie kann Er, der doch nie etwas vergisst (Ps 33:11) so viel Bedrängnis und Not Seiner Kinder vergessen?

Und so dringen sie weiter in Ihn: Er möge doch erwachen und ihrer Verlassenheit ein Ende bereiten, denn sie sind seelisch und körperlich völlig am Ende. Er möge sich selbst anschicken und Seinem Volk zur Hilfe kommen und es freikaufen. Und für die Erhörung dieser Bitte, das weiß der Psalmist aus der Überlieferungen seiner Ahnen, gibt es auf der ganzen Welt nur einem Grund: nicht eigene Kraft oder Gerechtigkeit, sondern allein das gnädige Wohlgefallen Gottes - seine barmherzige Güte.


Fragen zur praktischen Anwendung


1. Für welche herrliche, barmherzige Hilfe Gottes kannst Du Ihm von Herzen danken?

2. In welcher Situtation wünscht Du Dir Gottes allmächtigen und gnädigen Beistand?

3. Welche Not möchtest Du Deinem Dich liebenden Gott im Gebet herausschreien?

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* Die Datierung einzelner Psalmen ist schwierig, da der gesamte Psalter in einer Zeitspanne von fast 1.000 Jahren entstand. Die ältesten Psalmen gehen dabei auf Mose (1525 - 1405 v. Chr.) zurück. Jüngere, wie z.B. Ps. 137, reichen bis zur babylonischen Gefangenschaft (597 - 538 v. Chr.).