Sonntag, 12. Oktober 2014

Von der Zahlung der Tempelsteuer (Mt 17:24-27)

Text 

24 Als sie nun nach Kapernaum kamen, traten zu Petrus, die den Tempelgroschen einnehmen, und sprachen: Pflegt euer Meister nicht den Tempelgroschen zu geben? 25 Er sprach: Ja. Und als er heimkam, kam ihm Jesus zuvor und fragte: Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder von den Fremden? 26 Als er antwortete: Von den Fremden, sprach Jesus zu ihm: So sind die Kinder frei. 27 Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, geh hin an den See und wirf die Angel aus, und den ersten Fisch, der heraufkommt, den nimm; und wenn du sein Maul aufmachst, wirst du ein Zweigroschenstück finden; das nimm und gib's ihnen für mich und dich.


Kommentar

Zusammenfassung

Anlässlich der Eintreibung der Tempelsteuer lehrt Christus Petrus, dass die Kinder Gottes von dieser Steuer ausgenommen sind. Dennoch zahlt er dieselbe für sich und Petrus freiwillig, um nicht ein Ärgernis zu stiften. Dass Gottes Kinder als Königskinder tatsächlich von der Tempelsteuer ausgenommen sind, bestätigt Er uns durch ein Wunder: der genaue Steuerbetrag für Christus und Petrus findet sich im Maul eines Fisches.

Struktur

24 -25a Die Eintreiber der Tempelsteuer fragen Petrus nach Christi Zahlungsmoral
25b-26 Christus lehrt Petrus, das Königskinder von der Steuer ausgenommen sind
27 Um einen öffentlichen Anstoß zu vermeiden, zahlt Christus dennoch. Den erforderlichen Betrag lässt er Petrus durch ein Wunder zukommen und schenkt ihm seinen Anteil.

Inhalt

24 -25a Nachdem ihre Reise sie über Cäserea Philippi zum Hermon geführt hatte, geht es nun wieder zurück in das galiläische Kapernaum am See Genezareth. Dort treten Männer an Petrus heran, deren Dienst es war, die Tempelsteuer einzunehmen.

Die Tempelsteuer wurde bereits zu Moses Zeiten festgelegt (2.Mo 30:11-16) und betrug zur Zeit des Alten Testaments 1/2 "Shekel" (Luther: "Taler") für alle Männer über 20 Jahren. Zur Zeit des Neuen Testaments entsprach dem hebräischen Shekel der griechische Stater, auch "Doppeldrachme" (Luther: "Zweigroschenstück", Vers 27) genannt.

Die Tempelsteuer hatte eine zweifache Bestimmung. Zum einen diente sie dem Volk als "Sühnegeld". So sollte das Volk vor der Sünde des Selbstvertrauens bewahrt werden, indem es nicht auf die Macht seiner eigenen Zahl und Größe blickte, sondern allein auf den Herrn (vgl. 2Sam 24:10). Insofern diente die Tempelsteuer (2.Mo 30:11-16) "zum gnädigen Gedenken vor dem HERRN", "zur Sühnung für Euer Leben", also dazu, Gott gnädig zu stimmen, sollte doch jemand der Sünde zum Opfer gefallen sein. Zum anderen diente die Tempelsteuer jedoch auch "als Opfergabe für den HERRN", "zum Dienst an der Stiftshütte" (2.Mo 30:11-16), also zu deren Pflege und Instandhaltung derselben und später des Tempels.

Die Beauftragten zur Einnahme der Tempelsteuer traten also an Petrus heran und zwar mit der Frage, ob Jesus - ihr Lehrer - nicht die Gewohnheit habe, die Tempelsteuer zu entrichten. Einige Ausleger sehen darin eine Sach-Frage, da sie möglicherweise nicht wussten, ob Jesus seine Tempelsteuer möglicherweise schon in Nazareth oder in Jerusalem bezahlt hatte. Calvin jedoch, der erkannte, dass die Stadt Kapernaum "das Hauptquartier" Christi war, der dort im Hause Petri wohnte, sieht in der Frage einen Ausdruck des Tadels; als ob Jesus, aufgrund seiner Reisen an verschiedenste Orte, von der Einnahme der Tempelsteuer im Ort Kapernaum hätte ausgenommen werden wollen. In der Rhetorik der Frage ("pflegt ... nicht?" und "euer [nicht unser!] Meister") scheinen zudem eine gewisse Distanziertheit oder gar ein unterschwelliger Argwohn mit zu schwingen. 

Die Antwort Petri auf diese Frage fiel, vielleicht auch aufgrund der anzunehmenden Missbilligung, im wahrsten Sinne des Wortes einsilbig aus: er antwortete lediglich mit einem kurzen "Ja." Ja natürlich, ja selbstverständlich würde Christus, der sich doch freiwillig und ohne Zwang unter die Ordnungen des Gesetzes gestellt hatte, seine Pflicht erfüllen. Damit war alles gesagt und das Gespräch beendet.

25b-26a Als Petrus zu sich nach Hause kam, wo er auch Jesus Wohnung gegeben hatte, war er vielleicht entnervt von der Frage der Kollektoren und hatte ganz sicher die Absicht, Christus von diesem eher ärgerlichen Vorfall zu erzählen. Doch Christus - der dank Seiner göttlichen Natur gewusst hatte, was geschehen war - kommt dem Bericht Petri zuvor und stellt ihm eine Frage. Nicht ärgerlich oder missgestimmt sind dabei seine Worte, sondern er fragt ihn offen und gelassen, ja fast heiter; ganz von Herz zu Herz. 

Christus fragt ihn so, dass klar wird, dass Ihm an der Äußerung von Petri eigener Sicht und Meinung gelegen ist und nicht an einer Antwort, die, sobald sie gegeben wurde, als formal richtig oder falsch kategorisiert hätte werden können. Er möchte, dass Petrus über die Frage nachdenkt und sagt, zu welcher Einsicht er selbst in seinem Herzen gekommen ist. Er möchte, dass sein Schüler sich wirklich mit der Frage befasst und sie nicht obenhin beantwortet, ohne sich wirklich Gedanken gemacht zu haben. Und so fragt Er: "Was meinst Du, Simon?"

Die Frage selbst scheint beinahe rhetorischer Natur zu sein, denn Christus fragt, ob die Regenten dieser Erde ihre Zölle und Steuern von Ihren Kindern einfordern oder vielmehr von fremden Dritten. Doch dank der einleitenden Frage nach seiner Sicht ist die Antwort nicht rhetorisch vorgegeben, sondern Petrus kann ganz frei sagen, was er denkt. Und er antwortet: "Von den Fremden." 

Die ehrliche Antwort Petri - und auch hier scheint es so, dass Christus sie aufgrund Seiner göttlichen Natur bereits vorausgewusst hatte - nimmt Jesus dann zum Anlaß, ihm etwas beizubringen. Dass nämlich, was für die Kinder der Könige auf Erden gilt, erst recht für die Kinder dessen gilt, der da ist der "Selige und allein Gewaltige, der König aller Könige und Herr aller Herren" (1Tim 6:15): auch sie sind von der Steuer ausgenommen. Sie sind frei (Gal 5:1).

27 Doch obwohl Christus selbst, Der einzig ohne Sünde war (Joh 8:46, Heb 4:15), es nicht nötig gehabt hätte ein Sühnegeld zu entrichten, so erniedrigte Er sich sich dennoch selbst (Phil 2:6-8) unter das Gesetz (Gal 4:4), um kein Ärgernis zu erregen. Freiwillig will er geben, was von ihm erwartet wird - nicht aus Zwang, sondern aus den freien Stücken der Liebe.

Dass Er aber frei war von der Verpflichtung ein Sühnegeld zu entrichten, weil er ohne Sünde war und dass auch Petrus frei sein sollte, weil Er ihn als sein König freigestellt hatte, macht Jesus deutlich, indem Er die erwartete Abgabe nicht selbst zahlt und auch Petrus nicht dazu verpflichtet.
Vielmehr schenkt er sie Petrus: Im Mund eines Fisches, des ersten, den Petrus aus dem See Genezareth angeln würde, würde sich wundersamerweise ein Geldstück finden. Ein Zweigroschenstück. Gerade genug, dass Petrus es nehmen und für sich und Christus als Sühnegeld entrichten könnte.

Mit diesem Wunder weist Christus uns auf sein viel Größeres Geschenk an uns hin: dass Er selbst, der sündlose Gottessohn, für unsere Schuld mit Seinem Blut das Sühnegeld bezahlt hat (Rö 3:25).

Praktische Anwendung

1. Was empfindest Du, wenn Du daran denkst, dass Christus Dein Sühnegeld mit seinem eigenen Blut bezahlt hat? (Rö 3:25)

Verlangen nach Gott aus fremdem Land (Ps 42:1-12 & Ps 43:1-5)


Text


1 Eine Unterweisung der Söhne Korach, vorzusingen. 2 Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir. 3 Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem lebendigen Gott. Wann werde ich dahin kommen, daß ich Gottes Angesicht schaue? 4 Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott? 5 Daran will ich denken und ausschütten mein Herz bei mir selbst: wie ich einherzog in großer Schar, mit ihnen zu wallen zum Hause Gottes mit Frohlocken und Danken in der Schar derer, die da feiern. 6 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist. 7 Mein Gott, betrübt ist meine Seele in mir, darum gedenke ich an dich aus dem Land am Jordan und Hermon, vom Berge Misar. 8 Deine Fluten rauschen daher, und eine Tiefe ruft die andere; alle deine Wasserwogen und Wellen gehen über mich. 9 Am Tage sendet der HERR seine Güte, und des Nachts singe ich ihm und bete zu dem Gott meines Lebens. 10 Ich sage zu Gott, meinem Fels: Warum hast du mich vergessen? Warum muß ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget? 11 Es ist wie Mord in meinen Gebeinen, wenn mich meine Feinde schmähen und täglich zu mir sagen: Wo ist nun dein Gott? 12 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist. 1 Gott, schaffe mir Recht und führe meine Sache wider das unheilige Volk und errette mich von den falschen und bösen Leuten! 2 Denn du bist der Gott meiner Stärke: Warum hast du mich verstoßen? Warum muß ich so traurig gehen, wenn mein Feind mich dränget? 3 Sende dein Licht und deine Wahrheit, daß sie mich leiten und bringen zu deinem heiligen Berg und zu deiner Wohnung, 4 daß ich hineingehe zum Altar Gottes, zu dem Gott, der meine Freude und Wonne ist, und dir, Gott, auf der Harfe danke, mein Gott. 5 Was betrübst du dich, meine Seele, und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott; denn ich werde ihm noch danken, daß er meines Angesichts Hilfe und mein Gott ist.


Kommentar

Zusammenfassung

Aus der Not des Leidens - verfolgt, verhöhnt und verspottet von seinen Feinden - aus der empfundenen Gottesferne schreit der Beter zu Gott wie ein wildes Tier. Er bittet um Recht und Rettung, Linderung und Leitung. Vor allem aber quält ihn die Frage nach dem 'Warum', auf die er keine Antwort findet. Er blickt auf der Suche nach Trost zurück in die unwiederbringliche Vergangenheit und in die unbestimmte Zukunft. Doch den wahren Trost findet er erst in der lebendigen Hoffnung auf Gottes Ewigkeit, zu der allein Sein Wort ihn leitet.


Struktur

3 Strophen - mit je 4 Versen: 3 Aussageschwerpunkten und einem Kehrreim.

1.Strophe (Psalm 42, Verse 2-6)

2-3 Unaussprechlich gewaltige Sehnsucht nach der innigen Offenbarung Gottes
4 Tiefe Traurigkeit angesichts von Spott und Hohn in der Fremdlingschaft
5 Erinnerung der Seele an die fröhlichen Zeiten gemeinschaftlicher Wallfahrt
6 Kehrreim: Trost der Seele & deren Ermutigung auf den treuen Gott zu warten.

2. Strophe (Psalm 42, Verse 7-12)

7-8 Auf dem Hermon von Leideswogen begraben, besinnt sich der Beter auf Gott.
9 Von Ihm erhofft er Güte in der Finsternis des Leidens: besingenswerte Linderung.
10-11 Von Ihm fühlt er sich schmerzlichst verlassen und der bohrenden Frage nach dem Grund seines Leides und dem bitteren Spott seiner Feinde hilflos ausgeliefert.
12 Kehrreim: Selbsterkenntnis & Ermutigung, auf den liebenden Gott zu warten.

3. Strophe (Psalm 43, Verse 1-5)

1-2a Der Beter bittet Gott, der seine Stärke ist, um Rechtsprechung und Errettung
2b Noch immer unbegreiflich bleibt ihm die Frage nach dem 'Warum'?
3-4 Er bittet um Leitung durch Gottes Wort und endliche Gemeinschaft mit Gott.
5 Kehrreim: Hoffnungsvoller Trost & Ermutigung der Seele zur Geduld zu Gott.


Inhalt

1 Dieses Psalmlied wurde von den Söhnen des Korach gedichtet und komponiert uns soll der Gemeinde Gottes zu deren Unterweisung als Gesang vorgetragen werden.

2-3 So mächtig und unstillbar groß ist der Durst des Psalmisten nach Gottes Gegenwart, so gewaltig sind seine Sehnsucht und sein Verlangen nach der Offenbarung des Lebendigen, dass seine Seele nicht anders kann, als Ihm diese Not der empfundenen Trennung herauszuschreien, wie ein durstendes Wild, das nach frischem, klarem Wasser zum Leben verlangt. Eine einzige Frage wühlt seine Seele auf und ist der Urgrund seines brennenden Verlangens: wie lange noch muss er ausharren, bis er am Ziel seines Glaubens angekommen ist? Bis er Gott, dessen innige Nähe er sich so sehr herbeisehnt, in der Vollendung endlich schauen darf? So, wie es Jesus (Mt 5:8) und Johannes (1Joh 3:2) verheißen haben - von Angesicht zu Angesicht? Seine Seele dürstet nach Gott und so streckt sie sich aus nach Ihm, wie der Apostel Paulus nach dem vorgesteckten Ziel (Phil 3:10a.13a). 

4 Doch als sei des innerlichen Leidens an der Ferne Gottes noch nicht genug, so rühren die Spötter an jedem neuen Tag an eben diese wunde Stelle. Ihre Frage ist wie Gift für die Seele. Sie vermehrt den inneren Schmerz und verpestet ihn mit nagendem Zweifel. Zweifel an der Güte Gottes. Seinem liebenden Wesen. Zweifel an Ihm, der selbst Mensch wurde und weit mehr unter dieser Welt litt, als wir (Jes 53:7) es jemals werden. Zweifel an Ihm, der doch in all unserer Schwachheit mit uns leidet und in allem geprüft wurde, wie wir (Hebr 4:15). 

Die Frage, "Wo ist nun Dein Gott?", trieft nur so vor Hohn und wirft den Psalmisten in geradezu diabolischer Weise zurück in eine scheinbar sinn- und hoffnungslose Einsamkeit. Dort quält den Psalmisten das Leid von innen und außen zu täglichen Tränen. Und doch verhüllen ihm die Verborgenheit Gottes (vgl. Jes 45:15) und sein vertagtes Gericht (vgl. Ps 73:17-20) eine viel tiefere Wahrheit. Denn unser unsichtbarer und verborgener Gott hat uns hoch und heilig versprochen: "»Ich will dich nicht verlassen und nicht von dir weichen.«" (Hebr 13:5, Jos 1:5). Ja, Er "verzögert nicht die Verheißung, ... sondern er hat [vielmehr] Geduld ... und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde" (2Petr 3:9).

5 Im Angesicht seiner inneren und äußeren Not, seiner empfundenen Einsamkeit und dem Hohn der Spötter, geht dem Psalmisten bei der Erinnerung an bessere Tage das Herz über: Nicht an seine Not musste er damals denken, nicht an seinen Schmerz oder an den Spott der Gottlosen. Sondern vielmehr an das Gute, das ihm widerfuhr: wie er - in der fröhlichen Gemeinschaft seiner Glaubensgeschwister, einem großen, feiernden Festzug, erfüllt von Freude und Dank, ja mit Jubelrufen - unterwegs war zum Tempel in Jerusalem.

6 Und so schließt die erste Strophe mit dem Kehrreim und durch ihn mit der Frage an die eigene Seele: wozu all die Traurigkeit und innere Unrast? Wozu sich selbst beschweren mit einer untragbaren Bürde? Und gibt uns als Antwort darauf und als Aufruf mit auf den Weg: "Sei langmütig!", "Erdulde die Not!", "Warte auf Gott!". 

Doch kein sinnloser Stoizismus ist hier gefragt, sondern eine lebendige Hoffnung (1Pe 1:3). Eine Hoffnung, die sich gründet in eben diesem Wissen: Der Tag *wird* kommen, an dem wir erleben werden, dass Gott selbst unsere Hilfe ist. Nur darum heißt es: "Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Von der Geduld Hiobs habt ihr gehört und habt gesehen, zu welchem Ende es der Herr geführt hat; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer" (Jak 5,11). 

7-8 An welchem Ort dieser innere Kampf sich zuträgt, ist unklar. 'Misar' heißt nicht mehr und nicht weniger als 'klein' und meint damit entweder eine kleine Bergkuppe im Hermon-Massiv, oder eine poetische Verniedlichung des Hermon, welcher trotz seiner Höhe von über 2.800 Metern im Hinblick auf seine religiöse Wichtigkeit vor dem viel bedeutsameren Zion, dem heiligen Berg Gottes, verblasst. Wahrscheinlich ist, im Gesamtzusammenhang der Beschreibung "Land am Jordan und Hermon", wohl tatsächlich eine kleinere Erhebung in der Bergkette des Hermon gemeint. Hier also ist der Schauplatz des inneren Ringens an dem dieser Psalm uns - in poetischer Vollendung - Anteil gibt.

Wieder überwältigt der innere Schmerz den Psalmisten: unendlich traurig ist seine Seele, ja er empfindet die Macht seiner Anfechtungen, wie reißende Fluten die ihn überrollen und ihn, wie unter den gewaltige Tiefen des Meeres, zu begraben drohen. Ohne Ende und ohne Zahl scheinen seine Leiden über ihn hereinzubrechen und so fasst er den Entschluss, sich auf Gott zu besinnen. Wegen seines Leidens will er Gottes gedenken in all seiner schmerzvollen und trostlosen Einsamkeit - vielleicht in der Hoffnung, dass die Gedanken an seinen Erlöser ihm die ersehnte Linderung bringen.
9 Und so leuchtet der eigentlich im Futur verfasste Vers 9 inmitten der Finsternis der Verse 8 und 10 wie ein Silberstreif der Hoffnung in den Gedanken des Psalmisten auf: Es wird der Tag kommen, an dem der Ewige Gott ihn aus der Fülle der "Herrlichkeit seines Erbes für die Heiligen" (Eph 1:18), nämlich aus dem Reichtum Seines göttlichen Herzens, mit herzlicher Freundlichkeit und Seinem liebenden Wohlwollen beschenkt. Dies wird die Zeit sein, in der der Psalmist selbst in der Nacht noch voller Dank Gott singen und Ihm, dem Herrscher über sein Leben, im Gebet sein Herz ausschütten will.

10-11 Und so betet der Psalmist zu Gott. Zu Ihm, dem allmächtigen Schöpfer von Himmel und Erde. Er ist doch der feste Boden unter seinen Füßen, der Felsen, auf dem er in aller seiner Not noch sicher stehen kann. Und doch quält ihn diese Frage: Warum? Warum hat Er, der doch sein einziges Heil ist, ihn vergessen? Was ist der Grund und was das Ziel? Was ist der Sinn in all dem Leid? Verzweifelt fragt der Beter: Was nur ist geschehen, dass der Allwissende seinen Getreuen - der Ihn in inniger Liebe *mein* Fels nennt - vergaß? Was ist die Ursache dafür, dass er nun gezwungen ist, seinen Lebensweg in solcher Verfassung zu gehen? So betrübt und verängstigt, so kraftlos und mutlos, so hilflos und hoffnungslos. Vom Feind bedrängt, bedrückt und in die Ecke getrieben. Sein Leiden fühlt der Beter so intensiv, als ob ihn jemand ums Leben brächte. Es tut so weh. Wie ein inneres Brennen und Ziehen, eine Sehnsucht nach Erlösung und dem Ende der Qualen, eine zerreißende Spannung im Herzen und in der Seele: täglich geschmäht und verspottet, verachtet und ausgegrenzt, ja lächerlich gemacht zu werden. Weil Gott noch immer nicht eingegriffen hat. Und dann die giftig beißende Frage des Hohns: "Wo ist nun Dein Gott?". "Wo ist er? Es ist doch nichts zu sehen!".

12 Und wieder befragt der Psalmist im seelsorgerlichen Selbstgespräch die eigene Seele. Hinterfragt die Motivation und das Ziel der eigenen Gefühle. Warum und wozu die Traurigkeit und Betrübnis? Wozu die innere Unruhe und Rastlosigkeit? Doch nicht nur Selbsterkenntnis ist dem Beter ein Anliegen, sondern vor allem die Offenbarung der Herrlichkeit Gottes. Und so ermahnt er seine Seele erneut, in Geduld auf den treuen Gott zu warten. In der Hoffnung auf Sein Wirken - entsprechend Seinen Verheißungen - mit dem tröstenden Zukunftsbild vor Augen: es wird die Zeit kommen, da ich Ihm danken werde. Es ist zwar zur Zeit von der Hilfe Gottes nichts zu sehen. Doch dieses "nichts" ist kein reines "nichts", sondern viel mehr ein "noch nicht": Denn die Zeit wird kommen, da man es sehen kann. Dann endlich ist die Zeit zum Danken da. Dann wird offenbar werden, wer Gott wirklich ist: nicht irgendein Gott. Kein unpersönliches, fernes Wesen. Sondern *mein* Gott, der Gott *meiner* Hilfe. Ja, der Gott der "meines Angesichts Hilfe" ist. Der Gott, der mich erkannt hat und liebt. Der mein Angesicht kennt und mich freundlich anblickt. Der mich mit Liebe anschaut und mir hilft. Ja, der sich meiner von Herzen erbarmt, denn: "Wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der HERR über die, die ihn fürchten. (Ps 103,13)".

1-2a Nicht seiner eigenen Kraft vertraut der Beter, sondern er betet zu Gott um die Hilfe, die er nötig hat. Für seinen Streitfall wünscht er sich Gerechtigkeit: Gott selbst möge ihn als sein Anwalt vertreten und als Richter über die Taten seiner bösen, verlogenen Mitbürger urteilen. Gott selbst möge ihn retten vor der Lüge und Bosheit seiner Landsleute und dem Recht zum Durchbruch verhelfen. Es betet zu Gott, denn er weiß um die allmächtige Kraft Gottes und um Dessen Liebe zu ihm. Denn diese Liebe macht Gottes Stärke zu seiner Stärke, so dass er singen kann: "Du Gott *meiner* Stärke". 

2b Und wieder quält ihn die unbeantwortete Frage aller Leidenden seit Hiob, die Frage nach dem 'Warum'. Warum hat Gott, der doch seine einzige Rettung ist, ihn scheinbar verstoßen? Was ist der Grund und was der Sinn? Was ist nur geschehen, dass der Allwissende ihn zu vergessen scheint? Was ist der Grund, dass er nun in solcher Verfassung leben muss? So traurig und von seinen Widersachern bedrängt? Der Grund und der Sinn seines Leidens sind dem Beter unbegreiflich. Und doch ist es Gott selbst, der uns in Seinem Wort die Antwort darauf gibt, nämlich: damit wir "am bösen Tag bedenke[n]: Diesen hat Gott geschaffen wie jenen, damit der Mensch nicht wissen soll, was künftig ist. (Pred 7:14)", ja viel mehr noch: damit wir uns "rühmen ... der Bedrängnisse, weil wir wissen, dass Bedrängnis Geduld bringt, Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung, Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist." (Rö 5:3b-5).

3-4 Angesichts seiner Not betet der Psalmist ein drittes und letztes Mal, nicht allein um Rechtsprechung und Rettung, sondern um das wirklich Bedeutsame und zuletzt Wesentliche: die Gemeinschaft mit Gott. Nichts wünscht er sich sehnlicher, als dass Gott ihm Sein heiliges Wort sendet; das Licht der Erkenntnis (Ps 119:105) und Seine Wahrheit (Ps 119:160, Joh 17:17). Alleine wagt er nicht zu hoffen, den rechten Weg zu finden und so betet er zu Gott, Er selbst möge ihn auf seinem Weg führen; durch Sein Licht und Seine Wahrheit, die in Seinem Wort verborgen liegen. Das Ziel seiner Hoffnung ist Jerusalem: Zion, der heilige Berg Gottes (Jo 4:17), die Wohnung Gottes auf Erden. Hier möchte er eintreten, ja direkt zum Ort des Opfers vordringen, dem Altar Gottes. Hier möchte er sein Lob- und Dankopfer bringen (3Mo 7:11.13.15, 3Mo 22:21) und Seinem Gott ein Loblied singen, Ihm zum Klang der Harfe danken. Denn Er allein ist das Ziel Seiner Träume: Der ewige, herrliche Gott. Der Urquell allen Seins und aller Freude. Der Gott unserer Wonne und Glückseligkeit. 

5 Nach diesem Ausblick klingt der dritte Kehrreim in einem hoffnungsvollereren Tenor. Es sind dieselben Worte und doch scheint die Betonung verschoben: Nicht mehr so sehr auf der Betrübnis liegt der Schwerpunkt der Verse oder auf der Unruhe der Seele. Vielmehr klingt einen neue Hoffnung durch auf das "ich werde ihm noch danken", ein Ausblick auf die göttliche Hilfe. Und so wird die Frage des Kehrreims an die eigene Seele verwandelt in einen beruhigenden Trost: Wozu sich betrüben und so unruhig sein? Gott macht ja doch am Ende alles gut. Es wird die Zeit noch kommen, bestimmt noch kommen, an der es offenbar werden wird: "Der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer (Jak 5,11)." Denn es ist wahr, was uns Sein Wort verspricht: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!" (Offb 21:4-5).


Praktische Anwendung

1. "Leidet jemand unter euch, der bete." (Jak 5:13)
2. "Seid ... geduldig, liebe Brüder, bis zum Kommen des Herrn." (Jak 5:7ff)
3. "Umgürtet die Lenden eures Gemüts, seid nüchtern und setzt eure Hoffnung ganz auf die Gnade, die euch angeboten wird in der Offenbarung Jesu Christi." (1Petr 1:13)