Freitag, 28. Dezember 2012

Offene Türen – zaghafte Christen

Von Ulrich Parzany.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Parzany. Quellennachweis: AUFATMEN 4/2012  

Ich bin ziemlich weit in der Welt herumgekommen und kenne Länder, in denen man nicht weiß, was Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ist. Wie wunderbar, dann nach Hause zu kommen und zu wissen: „Mensch, du kannst alles machen, was du willst!“ Es gibt Rechtssicherheit, keine geheime Staatspolizei spioniert dir hinterher — wir haben alle Freiheit! Und alle Möglichkeiten. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt — aber wir nörgeln und klagen auch am meisten. Wir haben finanziell und organisatorisch alle Möglichkeiten. Alte und neue Medien — was hätte Paulus damit gemacht! Blitzschnell kommunizieren und Menschen erreichen können — unglaublich!
Und: Noch nie waren die Türen so weit offen! Mir geht es immer wie Paulus, der in 1. Korinther 16,9 geschrieben hat von seiner Tätigkeit in Ephesus: „Mir ist eine offene Tür zu reichem Wirken gegeben, aber — viele Widersacher.“. Dass es Schwierigkeiten gibt, Widerstand, das heißt für Paulus aber nicht, dass die Türen zu sind für die Evangelisation. Wo also liegt das Problem — warum wird so wenig evangelisiert? Sechs Ursachen möchte ich benennen: 


Der Sog der Postmoderne
Die erste ist der Sog der Postmoderne. Druck haben wir heute nicht. Druck ist in Diktaturen, wo die Polizei droht, wenn Menschen für Jesus den Mund aufmachen. Das haben wir bei uns nicht. Aber wir haben einen Sog, und er hat mitunter eine ebenso starke Wirkung wie Druck. Worin besteht der Sog?

Die Postmoderne ist durch vielerlei Attribute gekennzeichnet, aber ich greife dieses heraus: „Du kannst privat alles glauben.“ Alles ist möglich. Es gibt keine Wahrheit, die für alle gleich, gültig und verbindlich ist —  außer diesem Satz. Intellektuell ist diese postmoderne Konstruktion inkonsequent, doch wir leben sie trotzdem, denn der Mensch ist nicht logisch oder konsequent. Du hast deine Wahrheit, ich habe meine Wahrheit — es gibt keine Wahrheit für alle. Das einzige Gesetz in unserer Gesellschaft: Du darfst alles glauben, du darfst auch alles sagen, solange du das als deine private Wahrheit erklärst und solange du nicht behauptest, sie gilt für alle. „Toll, wie der an Jesus glaubt, so einen Glauben möchte ich haben!“ Da kannst du die absurdesten Dinge glauben und du wirst bewundert.
Wenn du allerdings sagst: „Es gibt eine Wahrheit, ob es dir passt oder nicht, die gilt auch für dich“ oder wenn du für den Satz Jesu einstehst: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich“, dann hast du das „Grundgesetz“ unserer Zeit verletzt und verdienst keine Toleranz mehr, denn dann gefährdest du die Freiheit einer offenen Gesellschaft. Das ist das Einzige, was nicht erlaubt ist.

Ich finde es traurig: Viele Christen in Mitteleuropa beugen sich diesem Sog. Diesem sanften Druck, der kein Zwang ist und nicht von der Polizei kommt —  man wird höchstens ausgegrinst oder als Fundamentalist beschimpft. Man beugt sich freiwillig und zieht sich in vorauseilendem Gehorsam zurück in den privaten Winkel. Weil wir beliebt und nette Leute sein wollen, überlassen wir die Öffentlichkeit den Gottlosen. Freiwillig — das ist der Sog der Postmoderne.
„Evangelisation? Warum müssen wir denn diesen ganzen Aufwand machen? Das kostet ja auch so viel Geld! Und das Geld kann man ja auch woanders einsetzen.“ Und der Teufel freut sich, wenn wir die Öffentlichkeit den Gottlosen überlassen — und ihr damit ja auch die Wahrheit vorenthalten, dass Gott der Schöpfer und Erhalter ist, der Erlöser und der Richter und damit auch der Retter aller Menschen.


Die Frage der Toleranz

Was ist eigentlich Toleranz? Der Soziologe Prof. Ulrich Beck hat eine Menge Bücher geschrieben, darunter „Der eigene Gott“. Wir leben in einer Zeit, in der jeder seine eigene Religion bastelt, es gibt nicht mehr den einen Gott, der für alle gültig ist. Das ist tolerant. Goethe war sehr kritisch: „Toleranz heißt verachten“, sagte er, weil tolerant war man, wenn man bestimmte Bürger auch leben ließ, aber sie waren Bürger zweiter Klasse. Etwa das Toleranz-Patent des österreichischen Kaisers Josef II. Da bekamen Protestanten und Juden die Erlaubnis, ihren Glauben leben zu dürfen, aber als Bürger zweiter Klasse — was man bis heute in der Architektur in Österreich, Tschechien und Ungarn wiederfindet: Ihre Kirchen durften keine Kirchtürme haben, die mussten in die Fassaden eingebaut werden. Toleranz hieß: Du darfst leben — aber du hast nicht die gleichen Rechte.
Lessing lässt in der Ringparabel „Nathan der Weise“ den Richter sagen, er wisse nicht, welcher der echte Ring ist, deshalb sollten sich alle bemühen, in der Liebe zu leben. Hier heißt die Logik: Wir beantworten die Wahrheitsfrage nicht, weil man sie nicht beantworten kann — stattdessen bemühen wir uns um Frieden. Genau das ist jetzt modern. Prof. Ulrich Beck sagt: „Inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden kann, entscheidet über die Fortexistenz der Menschheit.“ (Beck, „Der eigene Gott“) Den Frieden zu bewahren in einer Gesellschaft oder zwischen Völkern ist also wichtiger als die Wahrheitsfrage. Deshalb, so die Konsequenz, müssen wir die Wahrheitsfrage aufgeben. Und wer das tut, sei „tolerant“.

Ich will hier genau definieren, was Toleranz ist. Es ist deshalb so wichtig, weil die Kritiker — vor allem der monotheistischen Religionen — sagen: „Wer behauptet, dass er die Wahrheit hat, der wird sie auch eines Tages anderen mit Gewalt aufzwingen.“ Wie also definiert sich Toleranz? Ich zitiere einen der klügsten deutschen Philosophen, Jürgen Habermas (1): „Wir brauchen nicht tolerant zu sein, wenn wir gegenüber fremden Auffassungen und Einstellungen ohnehin indifferent sind oder gar den Wert dieses ‚Anderen‘ schätzen ... Die politische Tugend der Toleranz ist erst dann gefragt, wenn die Beteiligten ihren eigenen Wahrheitsanspruch im Konflikt mit dem Wahrheitsanspruch eines Anderen als ‚nicht verhandelbar‘ betrachten, aber den fortbestehenden Dissens dahingestellt sein lassen, um auf der Ebene des politischen Zusammenlebens eine gemeinsame Basis des Umgangs aufrechtzuerhalten.“
Wenn einer gleichgültig ist gegenüber dem, was ein anderer glaubt oder vertritt, dann ist das noch nicht Toleranz. Die bürgerliche Tugend der Toleranz beinhaltet, zwei miteinander unvereinbare Erkenntnisse oder Haltungen mit friedlichen Mitteln in einen —  auch öffentlichen — Diskurs zu bringen und einander nicht zur Einsicht zu zwingen. Habermas betont, eine freie Gesellschaft lebe davon, dass Menschen klar und öffentlich ihre Positionen vertreten und dafür eintreten und argumentieren und sich dazu bekennen. Dass miteinander gerungen wird —  aber eben im Frieden, ohne Polizei, ohne Terror, ohne Gewalt. Das ist Toleranz. Eine freie Gesellschaft, eine Demokratie, lebt davon, dass gegensätzliche Positionen ausgetragen werden.

Deswegen ärgere ich mich, wenn Leute schimpfen, dass im Parlament gestritten wird. Ich meine: Wenn die nicht mehr öffentlich streiten, sondern in Hinterzimmern still mauscheln, dann ist Gefahr im Verzug! Es muss eine öffentliche Diskussion sein, sie darf scharf sein, sie muss deutlich sein — aber friedlich, ohne Gewalt.
Viele, die sich heute tolerant nennen, möchten doch viel eher, dass ich als überzeugter Christ mich zurückziehe in meinen Hauskreis, in meinen privaten Winkel — da kann ich glauben, was ich will. Aber ich sage: Nein, wir müssen in die Öffentlichkeit! Ich möchte, dass Menschen demokratisch streiten. Wir haben 450 Millionen Einwohner in Europa. Es kann uns doch nicht egal sein, was die alles hören oder eben nicht. Wir müssen in die Öffentlichkeit!


Verspielte Glaubwürdigkeit
Die lange Geschichte der Verknüpfung von Staatsreligion mit Gewalt hat uns in Europa die Glaubwürdigkeit des Evangeliums gekostet. Kritiker halten uns Christen vor: ‚Heute seid ihr lammfromm, weil ihr keine Macht habt. Aber als ihr sie hattet — die ganzen Jahrhunderte hindurch in der Staatsreligion — da habt ihr die Leute, die anders dachten, ins Gefängnis gesteckt! Habt die Täufer ersäuft (mit Zwinglis Zustimmung...) oder hinrichten lassen in Genf ... Ihr habt Glaube mit der Polizei eingetrieben. Die ‚Ehe‘ von Thron und Altar ging doch erst 1918 zu Ende!“

Westeuropa ist der einzige Teil der Welt, in der die Gemeinde nicht wächst. Der einzige Teil, wo man gewaltige Anstrengungen unternehmen muss, um überhaupt das Interesse der Menschen zu gewinnen. Wenn ich in Asien oder in Afrika predige, schaue ich in tausende erwartungsvolle Augen, die von Jesus hören wollen.

Wir haben unsere Glaubwürdigkeit verspielt, weil wir versucht haben, das Evangelium mit Gewalt aufzuzwingen. Das Evangelium verträgt nicht die Unterstützung von Regierungen. Seine Kraft liegt in der Autorität der Hingabe und Liebe, nicht im langen Hebel der Polizei, der Gewalt und der Gesetzgebung, mit dem wir anderen aufzwingen wollen, wozu wir ihre Herzen nicht bewegen können.

Das ist eine schwierige Aufgabe heute —  aber unsere Zeitgenossen haben ein Recht darauf, dass wir das Evangelium leben, das wir verkündigen. Wenn wir sagen, dass dieser Jesus die Schlüsselfigur und allein der Retter ist, dann werden sie prüfen, oh sie uns das auch abnehmen können. Es geht heute nicht um rhetorische Tricks, es geht auch nicht um methodische Raffinesse, sondern darum, dass wir das Evangelium, das wir verkündigen, selber auch leben!


The German Angst 

Evangelium heute bei uns zu verkündigen heißt, Kamele durchs Nadelöhr zu treiben. Das sagte Jesus. Es ist leichter, dass ein Kamel durchs Nadelöhr kommt als ein Reicher ins Reich Gottes. Und wir gehören zu den Reichsten der Welt. Es ist Kennzeichen der Reichen, dass sie immer von sich selbst denken, dass sie nicht reich genug sind. Deshalb ist unser Land als eines der reichsten Länder der Welt nicht das Land der überbordenden Freude und Dankbarkeit, sondern das Land der Nörgler und „weltberühmt“ für die Angst. „The German Angst“ gibt es inzwischen als Fremdwort, neben „Kindergarten“ und „Zeitgeist“ im Englischen.

Ein Kennzeichen der Reichen ist auch: Sie brauchen Gott nicht. Sie kommen auch so im Leben zurecht. Manche Reiche sind wie der reiche Jüngling in der Bibel. Das kann ja eigentlich noch nicht alles gewesen sein, empfinden sie. Sie suchen den spirituellen Mehrwert, sind durchaus offen für Religion, Sicherheit und Anerkennung, ausschließlich begründet in ihrem Reichtum, sind nicht befriedigend genug; jetzt suchen sie zur Erfüllung auch noch Glauben an Gott. Daran scheitert der reiche Jüngling. Er war reich, klug, hatte die Gebote Gottes gehalten, Jesus bestätigt das. Als Jesus aber den Gottestest macht: „Verkaufe, was du hast, und komm und folge mir nach“, da kapiert er: Der Reichtum ist mein Gott, das ist mein Fundament, davon will ich nicht lassen.

Das ist Unser Problem! Es geht immer um Gott oder Mammon. Das Christentum Europas ist der Versuch, über zweitausend Jahre zu beweisen, dass Jesus nicht Recht hat mit seinem Satz: „Der Mensch kann entweder Gott dienen oder dem Mammon.“ Wir haben versucht zu zeigen, dass man beides miteinander vereinbaren kann. Aber man kann es nicht! Das ist der Grund, warum Menschen, obwohl sie spirituelle Sehnsucht haben, nicht umkehren. Es geht um das erste Gebot, dass ich breche mit den Götzen: Mit dem Geld, meinem Vermögen, das mir Sicherheit und Anerkennung gibt. Dass ich mich bekehre zu Jesus. Aber da hört der Spaß auf, da geht der Mann traurig davon. Diese Geschichte passiert bei uns tausendfach.

Wenn man weiter liest bei Lukas kommt bald danach Zachäus. Sein Vermögen war betrügerisch und unrecht erworben, ein schlimmer Reichtum. Und der wird nun der Sonne der Barmherzigkeit Gottes ausgesetzt. Ohne dass ihm Jesus die Leviten liest — worüber sich die Religiösen empören — sagt Zachäus: ‚Die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wo ich betrogen habe, gebe ich vierfach zurück. Da sehen wir: Bei den Menschen ist es unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich. Wer meint denn ernsthaft, es gäbe eine Methode, erfolgreicher zu sein als Jesus? Er musste mit ansehen, wie der reiche junge Mann wegging. Und trotzdem, trotzdem gilt allen die Botschaft von Jesus. 
  

Raus aus den Gettos 

Wie viele Beziehungen haben Sie zu Nichtchristen? Wenn bei „Pro Christ“ Gemeinden einladen, merken wir, dass viele Christen keine Beziehung haben zu noch nicht an Christus glaubende Menschen. Da fragt man sich: Was passiert eigentlich im Berufsalltag? Trifft man da keine „normalen“ Menschen? Ich werde nie vergessen, wie auf dem Welt-Missions-Kongress in Manila 1989 ein chinesischer Geschäftsmann von den Fröschen und Eidechsen erzählte: „Kennt ihr den Unterschied, wie die ihre Beute fangen? Der Frosch sitzt da und wartet, dass ein Insekt vorbei fliegt, dann geht die lange Zunge raus und versucht, es zu fangen. Die Eidechse aber rennt durch die Gegend und ist überall zu finden. Pastoren und Prediger sind die Frösche. Die sitzen in ihrer Position und warten. Aber Kaufleute und Ingenieure, Lehrerinnen und Sozialarbeiter, das sind Eidechsen, die kommen überall hin. Die sind jeden Tag unterwegs in der Gesellschaft und treffen dauernd Menschen, nach denen Gott sich sehnt.“ Die ganz normalen Mitglieder der Gemeinden sind die Menschenfischer, die den Missionsauftrag erfüllen können. Nur auf die Profis zu vertrauen, führt nicht zum Ziel. 


Das Recht, gehört zu werden 

Aber natürlich: Wir müssen das Recht erwerben, gehört zu werden. Wer ein miserabler Kollege ist in seinem Büro, wer andere mobbt, wer schlecht arbeitet, der braucht nicht damit zu rechnen, dass man ihm abnimmt, wenn er von Jesus redet. Wir erwerben das Recht, gehört zu werden, durch die Qualität unserer Arbeit und die Glaubwürdigkeit unseres Lebens. Für die Gemeinden gilt: Die Öffentlichkeit kann man nur erreichen, wenn man zusammenarbeitet. Wir sollten nicht allein versuchen, evangelistisch in die Öffentlichkeit zu gehen. Wir kommen aus dem Getto unserer Gemeinden nicht heraus in die Gesellschaft, wenn jeder für sich bleibt. Das ist heute eine große Tendenz: Jeder achtet auf sein eigenes. Schließlich soll die eigene Gemeinde wachsen. Nein! Die Öffentlichkeit erreichen wir nur, wenn wir miteinander arbeiten. Und deswegen sind säkulare Räume dafür auch die geeigneten Treffpunkte. 


Zur Zeit und Unzeit 

Als die erste Gemeinde in die Öffentlichkeit ging, merkte sie schnell, dass sie dafür keinen Applaus bekam, sondern Prügel (Apg 3-5). Die Apostel wurden eingeschüchtert. Niemand hat ihnen verboten, Hauskreise zu machen. Aber dass sie immer auf dem Tempelplatz in der Öffentlichkeit von Jesus redeten, das brachte Unruhe. Das kriegten sie verboten. Sie hätten sagen können: ‚Wir haben ja jetzt so viele Bekehrungen erlebt, jetzt konzentrieren wir uns auf Vertiefung.“ Machten sie aber nicht! Sie hatten zwar tägliche Hauskreise, Lehre, Gebet, Mahlfeier und Diakonie. Aber zugleich waren sie täglich in großen Versammlungen in der Öffentlichkeit:
„Wir können es nicht lassen, dass wir reden von dem, was wir gehört und gesehen haben. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“

Und dafür werden sie verprügelt und bedroht. Aber sie kommen fröhlich in die Gemeinde, weil sie wertgeachtet waren, für Jesus einzustehen. Betete die Gemeinde dann: „Herr, schütze uns vor diesem Druck“? Nein, sondern: „Gib deinen Knechten mit Freimut zu reden dein Wort!“ Das ist ihr Gebet. Egal, ob Druck oder Sog: Das sollte auch unser Gebet sein.


Ulrich Parzany ist Pfarrer und Evangelist. Er lebt mit seiner Frau in Kassel.
Vom 3.-10. März 2013 findet ProChrist mit Live-Übertragung in der Porsche-Arena, Stuttgart, statt. 
Teilnahme und Information: www.prochrist.org





(1) Zitat Jürgen Habermas aus „Wann müssen wir tolerant sein? Über die Konkurrenz von Weltbildern, Werten und Theorien“. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften am 29. Juni 2002

Montag, 24. Dezember 2012

Bitte um Verschonung - Dank für Errettung (Ps 28:1-9)

Text
1 Von David. Wenn ich rufe zu dir, HERR, mein Fels, so schweige doch nicht, daß ich nicht, wenn du schweigst, gleich werde denen, die in die Grube fahren. 2 Höre die Stimme meines Flehens, wenn ich zu dir schreie, wenn ich meine Hände aufhebe zu deinem heiligen Tempel. 3 Raffe mich nicht hin mit den Gottlosen und mit den Übeltätern, die freundlich reden mit ihrem Nächsten und haben Böses im Herzen. 4 Gib ihnen nach ihrem Tun und nach ihren bösen Taten; gib ihnen nach den Werken ihrer Hände; vergilt ihnen, wie sie es verdienen. 5 Denn sie wollen nicht achten auf das Tun des HERRN noch auf die Werke seiner Hände; darum wird er sie niederreißen und nicht wieder aufbauen. 6 Gelobt sei der HERR; denn er hat erhört die Stimme meines Flehens. 7 Der HERR ist meine Stärke und mein Schild; auf ihn hofft mein Herz, und mir ist geholfen. Nun ist mein Herz fröhlich, und ich will ihm danken mit meinem Lied. 8 Der HERR ist seines Volkes Stärke, Hilfe und Stärke für seinen Gesalbten. 9 Hilf deinem Volk und segne dein Erbe und weide und trage sie ewiglich!

Kommentar

Zusammenfassung

In diesem Psalm nimmt David uns erneut mit hinein in die Welt seines Herzens: Er singt offen über seine von arglistigen Gottesverächtern verursachte Not und seinen Wunsch, Gott möge solche Leute zurechtweisen. Über dieses Gebet findet er, über die Schau der Heiligkeit und des Gerichtes Gottes, zur Schau der Gnade und Güte Gottes, die ihm neue Hoffnung und Kraft schenkt, zu danken und auch für Gottes Volk zu beten, als deren König er von Gott eingesetzt ist.

Struktur

1-3 David beginnt den Psalm mit Flehen aus der von Gottlosen gewirkten Not
4-5 Er betrachtet sodann die Tiefe des Gerichtes Gottes über die Gottlosen
6-7 Und gewinnt in der Schau des Wesens Gottes neue Freude und Hoffnung
8-9 und kann so herzlich danken und auch für das Wohl seines Volkes beten

Inhalt

1a-2 In diesem Psalmlied bittet David den ewigen Gott, das ist: Christus den Fels seiner Erlösung (1Kor 10:4) um Antwort auf sein flehentliches Gebet. Davids ist dabei in seiner Seele so aufgewühlt, dass er seine Bitten zu Gott buchstäblich herausschreit und befürchtet, dass er stürbe, bekäme er keine Antwort. Davids Körperhaltung finden wir auch im Neuen Testament wieder, wo es 1Tim 2:8 heißt: "So will ich nun, dass die Männer beten an allen Orten und aufheben heilige Hände ohne Zorn und Zweifel." David erhebt seine Hände zum Himmel, denn er weiß (Ps 11:4): hier ist der Tempel Gottes (Offb 11:19).

3b Was David innerlich so aufwühlt und so flehentlich beten lässt, sind seine Feinde: arglistige Heuchler, die vorne herum freundlich mit David reden und dabei, das weiß David, dennoch ganz bewusst Böses in ihren Herzen bewegen.

4 Diesen Menschen wünscht David Gottes gerechte Züchtigung: Sie sollen, gemäß der universalen Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung, Ihre Ernte (das ist, die Ernte ihres bösen Planens, ihrer arglistigen Taten und den sich daraus ergebenden, nichtigen Werken) aus Gottes Hand empfangen (Gal 6:7f). Dabei will David keine Rache, sondern allein, dass sie aus Gottes Hand empfangen, was sie gerechterweise verdienen.

5a Dabei hat David auch nicht nur sich selbst im Blick, sondern vielmehr auch die Tatsache, dass diese Menschen das Handeln Gottes, in Seiner Schöpfung und seinem Heilsplan, böswillig missachten.

5b Das ist dann letztlich auch der Grund, weshalb solche Menschen von Gott gerichtet werden. Das Bild, das David dabei gebraucht, könnte verheerender kaum sein; er weiß: Gott wird solche Gottesverächter in Trümmer legen, sie bis auf ihre Grundfesten schleifen und wird die verbliebenen Ruinen nicht wieder restaurieren: ihr Verderben wird ewig sein. So predigt es Christus (Mk 9:43-48!) und so lesen wir es auch an vielen anderen Stellen der Schrift (Jud 13, Heb 10:31, Offb 19:3, u.v.a.m.)

3a Angesichts dieses fürchterlichen Gerichtes betet David im Wissen um seine eigene Sündhaftigkeit (Ps 51:7), dass Gott ihn verschonen möge und ihn nicht zusammen mit den Gottlosen und Verbrechern vom Erboden vertilge.

6 David betet flehentlich und schreit seine Not heraus zu Gott. Und Gott, der die Erhörung eines Gebetes aus der Not versprochen hat (Ps 50:15) hält, wie Er es in Seiner Treue und Wahrhaftigkeit immer tut, Sein Wort. Noch während David betet, wird ihm bewußt, dass der Ewige Gott seine kleine, menschliche Stimme vernommen und sein flehentliches Gebet erhört hat.

7 Dank dieser Stärkung seiner Seele lobt David in dieser so neu gewonnenen Freude den Ewig Seienden: Er, dessen weiß sich David erneut versichert, ist in diesem Erdenleben Seine Kraft und Sein Schutz. Auf Ihn will er seine Hoffnung setzen und schon allein in diesem Akt des Glaubens ist ihm geholfen: Freude breitet sich in seinem Herzen aus über das gute Herz Gottes, Seine Treue und Macht, Seinen Beistand und seine Hilfe. Aus dieser neu gewonnenen Freude heraus kann David Ihm von Herzen danken (vgl. Ps 42:9).

8 In dieser Schau des Wesens Gottes blickt David über sich selbst und seine Not hinaus und kommt zu der freudigen Gewissheit: Dieser gütige und heilige Gott ist nicht nur seine Hilfe, sondern auch die Kraft und die Hilfe Seines Volkes, über das Er David zum König gesalbt und eingesetzt hat (1Sam 16:1-13).

9 So im Glauben gestärkt betet dann David noch einmal. Nun aber nicht mehr allein für sich, sondern auch für das Volk Gottes für das er verantwortlich ist: Dass Gott Sein Volk mit Segen überschütten und Sie in alle Ewigkeit tragen möge, denn sie sind Sein Erbteil (5Mo 32:9).

Praktische Anwendung

1. Wir dürfen immer und mit aller Not zu Gott kommen und Seine Hilfe erwarten
2. und wissen, dass Freude, Kraft & Hoffnung aus der Gottesschau kommen
3. Wir können, so gestärkt, auch für diejenigen beten, die uns anbefohlen sind.

Freitag, 14. Dezember 2012

Der große Lobpreis der Herrlichkeit Gottes (Ps 29:1-11)

Text

1 Ein Psalm Davids. Bringet dar dem HERRN, ihr Himmlischen, bringet dar dem HERRN Ehre und Stärke! 2 Bringet dar dem HERRN die Ehre seines Namens, betet an den HERRN in heiligem Schmuck! 3 Die Stimme des HERRN erschallt über den Wassern, der Gott der Ehre donnert, der HERR, über großen Wassern. 4 Die Stimme des HERRN ergeht mit Macht, die Stimme des HERRN ergeht herrlich. 5 Die Stimme des HERRN zerbricht die Zedern, der HERR zerbricht die Zedern des Libanon. 6 Er läßt hüpfen wie ein Kalb den Libanon, den Sirjon wie einen jungen Wildstier. 7 Die Stimme des HERRN sprüht Feuerflammen; 8 die Stimme des HERRN läßt die Wüste erbeben; der HERR läßt erbeben die Wüste Kadesch. 9 Die Stimme des HERRN läßt Eichen wirbeln und reißt Wälder kahl. In seinem Tempel ruft alles: »Ehre! « 10 Der HERR hat seinen Thron über der Flut; der HERR bleibt ein König in Ewigkeit. 11 Der HERR wird seinem Volk Kraft geben; der HERR wird sein Volk segnen mit Frieden.


Kommentar

Zusammenfassung

Der 29. Psalm, "Der große Lobpreis der Herrlichkeit Gottes" spricht in seinen 11 Versen 18-mal vom HERRN, Seiner Macht, Ehre und Herrlichkeit und zeigt uns deutlich, dass Gott, trotz allen Widerstandes der Welt, in alle Ewigkeit der HERR aller Herren und der König aller Könige bleiben wird, der die Welt durch Sein Wort richtet und die Seinen durch Sein Wort stärkt und ihnen Frieden gibt.


Struktur

1a Davids Lied besingt die Ehre Gottes, Seines Namens und Seiner Macht
1b-2 IHM sollen wir in stillem und sanftem Geist würdige Anbetung zollen
3-4 Gottes Stimme und Wort sind hoch erhoben über Heidenvölker und Leid
5-9a Die unvergleichliche Urgewalt Seines Wortes richtet die Heidenkönige
9b-10 Trotz allen Widerstandes bleibt Gott der HERR in Ewigkeit
11 Und ER, der Allmächtige, will uns stärken und gibt uns Seinen Frieden.


Inhalt

1a Auch in diesem Psalmlied umschreibt David, wie schon in Psalm 11 und Psalm 18, die Macht und Herrlichkeit Gottes mit Bildern gewaltiger Naturschauspiele und erinnert so auch an die Reden Gottes aus dem Wettersturm (Hiob 38:1ff). Dabei geht es ihm vorrangig um eines: die Ehre Gottes und Seines Namens und Dessen in Seiner Macht sich offenbarende Herrlickkeit.

1b-2
Bevor uns David jedoch mit hinein nimmt in seine Gottesschau, fordert er die himmlischen Heerscharen und damit auch uns, als die in Christus Jesus im Himmel eingesetzten Gottessöhne (Eph 2:6, Joh 10:34), auf, eine unserem Allmächtigen HERRN würdige Haltung einzunehmen, indem wir wie lebendige Spiegel Sein Wesen reflektieren: indem wir IHM in unseren Herzen die Ehre geben und IHM im Schmuck des verborgenen Menschen, in stillem und sanftem Geist (1Pe 3:3f), die Anbetung zollen, die Seiner Macht und Herrlichkeit und der Ehre Seines Namens würdig sind.

3-4
Hoch über dem Völkermeer der Nationen und hoch über der tosenden See von Trübsal und Angst, in der Heiligen Schrift an vielen Stellen mit dem Bild großer Wasser umschrieben (Ps 144:7, Jes 17:12f, Ps 18:17, Ps 32:6), erschallt mit herrlicher, donnernder Macht die gewaltige Stimme des HERRN (vgl. Hi 40:9).

5-9a Diese Stimme, das Wort des Allmächtigen Gottes, ist wie ein schwerer Sturm, der Eichen umherwirbelt wie Spielzeug und ganze Wälder kahl zu reißen vermag. Es ist wie "ein Hammer, der Felsen zerschmeißt" (Jer 23:29): wie ein Orkan, der selbst libanesische Zedern zerbricht, immergrüne Bäume, deren Wuchshöhen bis zu 50 Meter erreichen, deren Durchmesser bis zu zwei Meter betragen und die über 1.000 Jahre alt werden können.

Die "Zedern des Libanon" sind zugleich auch ein Bild für mächtige Könige und Herrscher (vgl. 2Kö 14:9, 2Chr 25:18, Hes 31:2-3), denn unser Gott ist auch der, von dem es heißt: "er setzt Könige ab und setzt Könige ein" (Dan 2,21).


So gewaltig ist die Macht der Stimme Gottes und Seines Wortes, dass David sie mit einem feuersprühenden Vulkanausbruch vergleicht und einem Erbeben, das die Bergkette des Libanon) so erschüttert, dass sie vom Hermon (1) im Süden, bis in die Wüste Kadesch im Norden, tanzt, wie einen Wildstier beim Rodeo.



9b-10 Über den Fluten der Völker, dem Toben die Heiden, dem Murren der Völker und der Auflehnung der Könige auf Erden (Ps 2:1-2) bleibt Gott der HERR von Ewigkeit zu Ewigkeit "der Selige und allein Gewaltige, der König aller Könige und Herr aller Herren, der allein Unsterblichkeit hat, der da wohnt in einem Licht, zu dem niemand kommen kann, den kein Mensch gesehen hat noch sehen kann. Dem sei Ehre und ewige Macht! Amen" (1Tim 6:15f)! Und in seinem Tempel ruft alles: »Ehre! «

11 Dieser Allmächtige Gott, dessen Wort die Völker und Könige richtet, ist es, von dem wir trotz aller Not in dieser Welt wissen dürfen: ER ist für uns (Rö 8:31) und wird uns, die wir eine kleine Zeit leiden, neue Kraft geben und uns "aufrichten, stärken, kräftigen, gründen" (1Pe 5:10) und uns, Sein Volk, mit Seinem Frieden segnen (Joh 14:27), "der höher ist als alle Vernunft" , und so unsere "Herzen und Sinne in Christus Jesus [bewahren]" (Phil 4,7).


Praktische Anwendung

1. In der Macht Seines Wortes offenbart sich die Herrlickkeit und Ehre Gottes; IHM sollen wir im stillen und sanften Geist der Anbetung begegnen.

2. ER, der Allmächtige, steht hoch über den Nationen und über aller Trübsal und Leid und bleibt trotz allen Widerstandes der Nationen und ihrer Regenten Gott in Ewigkeit, ja Sein Wort wird sie mit Urgewalt richten.

3. Uns gegenüber jedoch, Seinen in Christus im Himmel eingesetzten Kindern, ist ER freundlich; stärkt uns in der Not und gibt uns Seinen Frieden.



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1) Sirjon ist der Sidonische Name des Hermon; er besteht aus Kalkstein und vulkanischen Gesteinen

Sonntag, 25. November 2012

Gedenke Deines Gegners


Von Keith A. Mathison - Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Künnemann

Ich wurde von der Wahrheit reformierter Theologie überzeugt während ich das Dallas Theological Seminary besuchte – die Flaggschiff-Institution dispensationaler Theologie. Einige meiner Mitstudenten beschuldigten mich des Abfalls, als sie herausfanden dass ich den Dispensationalismus abgelehnt hatte. Nachdem ich meine fünf Punkte-Calvinisten-Uniform angelegt hatte, nahm ich denjenigen gegenüber, die dem Dispensationalismus verpflichtet blieben, eine Haltung an, die bevormundend und herablassend war. Spott wurde eine Hauptwaffe in meinem Arsenal. Bei meiner Ankunft am Reformed Theological Seminary landete ich sogleich inmitten von Debatten zwischen Studenten über Themen die mir nicht geläufig waren – Debatten über Theonomie, apologetische Methodologie und weitere – und die in Dallas nicht an der Tagesordnung waren. Ich war nicht in der Lage, viel zu solchen Diskussionen beizutragen und doch fuhr ich in meinem Spott der Dispensationalisten fort. 

Ich war im was Michael Horton das "Käfigstadium" nennt – jenen Zeitraum, während dessen ein frisch zur reformierten Theologie Konvertierter in einen Käfig eingesperrt werden sollte; zu seinem eigenen Besten und dem Besten der Anderen um ihn herum. Während des "Käfigstadiums" ist der reformierte Anfänger-Konvertit oft ärgerlich, dass ihm die Lehre der Gnade nicht eher vermittelt wurde. Er kann sich der Tradition gegenüber, aus der er kam, besonders giftig verhalten, und wehe denen, die in dieser Tradition bleiben (ob Dispensationalismus oder etwas anderes). Sie werden oft als intellektuell unterlegen angesehen, weil sie nicht in der Lage sind, die einfache Wahrheit der Schrift zu sehen, welche der Mega-Hirn-Calvinist sieht. Sie werden zur Zielscheibe des Spotts und das Ziel von Sarkasmus und Hohn. Der Grad der Arroganz und des Stolzes, das man während des Käfigstadiums erreichen kann, ist kaum zu begreifen und schrecklich anzusehen.

Ich weiß nicht ob John Newton etwas Vergleichbares wie das "Käfigstadium" durchgemacht hat, nachdem er zu Christus kam. Was ich weiß ist, dass sein Brief "Über den Streit" ["On Controversy", Anm. d. ÜS.] mir geholfen hat zu sehen, was ich getan hatte. Newton schrieb diesen Brief an einen Mitpfarrer der gerade plante, die Feder gegen einen anderen Pfarrer zu erheben, den er im Irrtum glaubte. Das ist manchmal notwendig, doch Newton gibt uns einige weise Ratschläge, wie man es anstellen sollte. In seinem Brief gibt er seinem Freund den Rat über drei Dinge nachzudenken: seinen Gegner, seine Zuhörerschaft und sich selbst. In diesem Artikel werden wir betrachten, wie wir im Streit über unsere Gegner zu denken haben. Newton beginnt diesen Abschnitt seines Briefes mit einem sehr weisen Ratschlag; er schreibt:

Was deinen Gegner angeht so wünschte ich, dass, bevor du die Feder gegen ihn zu Papier bringst und während der ganzen Zeit in der du deine Antwort vorbereitest, du ihn in ernsthaftem Gebet der Lehre und dem Segen des Herrn anbefehlen mögest. Diese Übung wird eine unmittelbare Tendenz haben, dein Herz zu versöhnen, ihn zu lieben und sich seiner zu erbarmen; und solch eine Verfassung wird einen guten Einfluss auf jede Seite haben, die du schreibst.

Haben Sie jemals daran gedacht für die zu beten, mit denen sie in irgendeiner Art von Streit verwickelt sind? Es scheint offensichtlich, doch wir neigen dazu, uns in der Hitze des Gefechts so zu verfangen, dass wir leicht vergessen es zu tun. Wir betrachten unseren theologischen Gegner in der Weise wie ein Soldat einen gegnerischen Kombattanten betrachtet – als jemanden, der zu zerstören ist, bevor er uns zerstört. Auf diese Weise degenerieren theologische Debatten in calvinistischen Kreisen manchmal in das verbale Äquivalent der World Wrestling Federation. Hätten wir für die zu beten, mit denen wir Streitgespräche führen, wir wären weniger zu Zorn und Arglist Ihnen gegenüber geneigt.
Dann erläutert Newton dass wir daran denken sollten, ob unser Gegner ein Gläubiger ist oder nicht.
Wenn du ihn als Gläubigen ansiehst, wenn auch höchst irrend bezüglich des zwischen Euch [stehenden] Diskussionsthemas, so sind die Worte Davids an Joab bezüglich Absalom sehr treffend: „Verfahrt mir schonend mit meinem Sohn Absalom!“ Der Herr liebt ihn und hat Geduld mit ihm; darum darfst Du ihn nicht geringschätzen oder ihn grob behandeln. Der Herr hat in gleicher Weise Geduld mit Dir und erwartet, dass Du Anderen Zartheit zeigst angesichts der vielen Vergebung die Du selber brauchst. In einer kleinen Weile wirst Du ihn im Himmel treffen; dann wird er Dir teurer sein, als es der engste Freund, den Du auf Erden hast, jetzt ist. Sieh diesen Zeitraum in Deinen Gedanken voraus; und obwohl Du es erforderlich finden magst, Dich seinen Fehlern entgegenzusetzen, betrachte ihn persönlich als eine verwandte Seele, mit der Du in Christus ewig glücklich sein sollst.
Wie oft vergessen wir das.
Wie oft vergessen wir, Brüder in Christus wie Brüder in Christus zu behandeln – jene, die der Vater liebt und jene mit denen wir die Ewigkeit im neuen Himmel und der neuen Erde teilen werden.
Auf der anderen Seite, wenn wir unseren Gegner als einen Ungläubigen ansehen, sollten wir daran erinnert werden: „das hätte auch mir passieren können“. Gott hätte eher dessen Augen öffnen können, als unsere. Wir müssen demütig bleiben. Wir müssen uns daran erinnern, dass auch wir von Gott entfremdet waren. Auch wir waren Feinde des Herrn. Unser Gebet in diesem Fall sollte für seine Bekehrung sein und wir haben vorsichtig zu sein, dass wir nichts tun, was unnötige Stolpersteine in seinen Weg legt. Wir sollten in der Hoffnung sprechen oder handeln, dass unsere Worte von Gott benutzt werden, um diesen Menschen zum Glauben und zur Buße zu bringen.
Newtons Brief ermutigt uns, unseren Gegner im Streit so zu behandeln, wie wir selbst behandelt werden wollen würden; und wenn wir alle etwas nicht leiden können, ist es, falsch dargestellt oder verleumdet zu werden. Wir müssen darum jede Anstrengung unternehmen, die Ansicht unseres Gegners akkurat wiederzugeben. Auch wenn Newton sich nicht explizit mit diesem Thema beschäftigt, ist es doch in seinen Worten impliziert.

Das neunte Gebot verbietet uns, unserem Nächsten durch Lügen zu schaden (2Mo 20:16). Diejenigen, die Christus folgen, haben nicht falsches Zeugnis gegen andere Menschen – theologische Gegner oder sonst wen – abzulegen (2Mo 23:1, 3Mo 19:11.14.16). Die Position eines Gegners inmitten einer theologischen Kontroverse falsch darzustellen, heißt, die Person zu verleumden und Verleumdung ist ein Beispiel der üblen Verwendung von Worten und Sprache (Jak 4:11).
Die Ansicht jener, mit denen wir nicht einig sind, falsch darzustellen ist nicht nur unlauter, es ist sinnlos. Wir müssen uns bemühen, die Ansichten unserer Gegner ehrlich darzustellen. Einen Strohmann zu verdreschen ist eine sinnlose Übung und lässt uns dabei töricht aussehen. Man kann einen Gegner nicht vom Fehler seiner Ansicht überzeugen, wenn man gegen eine Ansicht argumentiert, die dieser Gegner gar nicht vertritt.
Lasst uns denn danach streben, in Meinungsverschiedenheiten unseres Gegners zu gedenken. Lasst uns daran denken, für ihn zu beten, behutsam mit ihm umzugehen und uns mit dem höchsten Maßstab der Aufrichtigkeit mit ihm zu beschäftigen.

Dr. Keith A. Mathison ist Mitherausgeber des Tabletalk Magazins, Dekan und Professor an der Ligonier Academy of Biblical and Theological Studies und Autor des Buches From Age to Age: The Unfolding of Biblical Eschatology.

Montag, 19. November 2012

Jesus und der sinkende Petrus auf dem See (Mt 14:22-33)

Text

22 Und alsbald trieb Jesus seine Jünger, in das Boot zu steigen und vor ihm hinüberzufahren, bis er das Volk gehen ließe. 23 Und als er das Volk hatte gehen lassen, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Und am Abend war er dort allein. 24 Und das Boot war schon weit vom Land entfernt und kam in Not durch die Wellen; denn der Wind stand ihm entgegen. 25 Aber in der vierten Nachtwache kam Jesus zu ihnen und ging auf dem See. 26 Und als ihn die Jünger sahen auf dem See gehen, erschraken sie und riefen: Es ist ein Gespenst! und schrien vor Furcht. 27 Aber sogleich redete Jesus mit ihnen und sprach: Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht! 28 Petrus aber antwortete ihm und sprach: Herr, bist du es, so befiehl mir, zu dir zu kommen auf dem Wasser. 29 Und er sprach: Komm her! Und Petrus stieg aus dem Boot und ging auf dem Wasser und kam auf Jesus zu. 30 Als er aber den starken Wind sah, erschrak er und begann zu sinken und schrie: Herr, hilf mir! 31 Jesus aber streckte sogleich die Hand aus und ergriff ihn und sprach zu ihm: Du Kleingläubiger, warum hast du gezweifelt? 32 Und sie traten in das Boot, und der Wind legte sich. 33 Die aber im Boot waren, fielen vor ihm nieder und sprachen: Du bist wahrhaftig Gottes Sohn!

Kommentar

Zusammenfassung

Was wir hier lesen, ist weder selbstverständlich, denn die Geschichte ist voller Wunder, noch Nonsense, denn es handelt sich um einen Tatsachenbericht: Christus sendet seine Jünger von sich weg, wo sie in Not geraten. Und doch behält er sie betend im Blick, kommt ihnen entgegen, begegnet ihnen, offenbart sich ihnen durch sein Wort und rettet sie trotz Zweifels aus ihrer Not.


Struktur

22-23 Die Jünger und das Volk wollen bei Jesus bleiben, der sie fortschickt
24 Die Jünger geraten so in höchste Not, doch Christus, betend, sieht sie
25-26 Der Überlebenskampf verstellt den Jüngern den Blick auf Christus
27 Christus offenbart sich und gibt sich zu erkennen
28-29 Mit Blick auf Christi Wort macht Petrus die Probe auf's Exempel
30-31 Mit Blick auf die Gefahr zweifelt er - doch Christus rettet ihn
32 Christus beendet die Not, doch die Jünger kennen sein Herz noch nicht
33 Doch sie haben erkannt: Jesus ist der Christus, Gottes Sohn


Inhalt

22-23 Nach dem Wunder der Brotvermehrung 'kleben' die Jünger samt dem Volk wie gebannt an Jesus. Doch Jesus hat andere Pläne, nämlich alleine zu beten, und so nötigt er Seine Jünger in das Boot zu steigen, mit dem sie nach Betsaida über den See gekommen waren, und -ihm voraus- zurück zu fahren, bis Er das Volk nach Hause geschickt hätte. So gesehen war der Befehl Jesu ein hinreichender wenn auch nicht zwingender Grund für die Seenot Seiner Jünger.

Viel wichtiger aber ist die in dieser Tatsache verborgene Erkenntnis, dass Jesus nicht allein über unseren Aufenthaltsort und damit über unsere äußeren Umstände bestimmt, sondern vielmehr auch über unsere Herzen und damit auch insbesondere über unsere Zeiten innigster Gemeinschaft mit Ihm und über unsere Zeiten äußerster Not. Er ist unser Schöpfer, der allmächtige König der Könige und Herr aller Herren, der uns zuruft: "Ein jegliches hat Seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat Seine Stunde: ... herzen hat Seine Zeit, aufhören zu herzen hat Seine Zeit" (Pred 3:1.5b).

Als Jesus Seine geliebten Jünger und das Volk von sich weg geschickt hatte, wanderte er, wie eigentlich schon am Vortag geplant, auf einen der sich bis zu 500m über den See erhebenden Berge der umliegenden Landschaft, um im Gebet Gemeinschaft mit Seinem Vater zu haben, dessen Führung zu suchen und wohl auch für Seine Jünger zu beten. Und als es endlich Abend wurde war Er dort oben, von wo aus er eine gute Sicht auf den See hatte, ganz allein.

24 Während vieler Monate liegt die Starkwindwahrscheinlichkeit auf dem See Genezareth bei nahezu 100%. Der Grund dafür liegt in den Winden, die sich im Hochland bilden und die auf ihrem Weg hinab zu dem am tiefsten gelegenen See der Welt (1) als ablandige Fallwinde zusätzlich beschleunigt werden. An diesem Abend jedoch war der dem Boot entgegen tosende Sturm derartig stark, dass die Jünger, etliche von Ihnen seit Jahrzehnten erfahrene Fischer!, durch die peitschenden Wellen in Seenot gerieten. Zu weit vom Land entfernt, um sich schwimmend ans Ufer zu retten, rudern die Jünger um ihr nacktes Überleben.

Doch auch, in ihrer höchsten Not, als Sie sich mutterseelenallein fühlen, sind sie nicht vergessen. Ganz im Gegenteil: ihr liebender und für sie betender Heiland (vgl. Rö 8:34) hat sie fest im Blick, so bezeugt es das Markus-Evangelium (Mk 6:48).

25-26 Der Sturm, der sich gegen Abend erhoben hatte, tobte nun schon die ganze Nacht. Als Jesus ihnen in ihrer schwärzesten Stunde (2) entgegen kommt, um sie zu retten, sind die Jünger, nach über neunstündigem Überlebenskampf, körperlich und seelisch bereits völlig entkräftet. So groß ist ihre Panik und so beherrschend ihre Furcht vor dem Tod, dass sie Ihn, ihren geliebten Heiland, nicht mehr erkennen, sondern für eine Art "Fliegenden Holländer" halten. Und so erscheint Ihnen Sein allmächtiges Gebieten über die Naturgewalten als eine übernatürliche Bedrohung ihres zerbrechlichen Lebens und steigert ihre Angst ins Unermessliche.

27 Es ist ein Wunder, dass Jesus auf dem Wasser geht und es ist Gnade, dass Er den Jüngern zur Rettung entgegen geht, doch es ist Liebe, Barmherzigkeit und Güte, dass Er sich ihrer Angst vor Ihm sofort annimmt und sich Ihnen mit den wunderbaren und liebevollen Worten zu erkennen gibt: "Seid getrost, ich bin's; fürchtet euch nicht!" Denn das ist die wichtigste Aussage, die wir je hören werden: Es ist Christus der uns entgegenkommt, es ist Christus dem alle Dinge untertan sind (Phil 3:21) und es ist Christus der uns aus unserer Not rettet.

28-29
Petrus jedoch, in allem immer der Erste, lässt sich mit Worten allein nicht überzeugen sondern will aufgrund von Taten mit Sicherheit wissen, Wer da spricht. Und so stellt er eine Bitte, die angesichts der lebensbedrohlichen Lage der Jünger gewagter kaum sein könnte: sich in noch größere Not bringen zu dürfen, indem er -lebensgefährlich: während des noch wütenden Sturmes!- das Boot verlässt und -menschenunmöglich: auf dem Wasser!- allein aufgrund von Jesu Wort in Dessen Gegenwart kommt.

Eines hat Petrus instinktiv richtig erkannt: Es ist alleine Gottes Wort das uns in den Stürmen des Lebens verlässlich zu tragen und sicher zu Christus zu leiten vermag. Und wie alle Wunder Christi, so hat auch dieses Wunder, neben der Hilfestellung in der Not, ganz klar dies Eine zum Zweck: die Göttlichkeit Christi und die Seines Auftrags gegen jeden Zweifel zu bestätigen (Joh 3:2).

Und weil diese Bitte im Willen Gottes lag, das ist: Jesus als den Christus zu bestätigen und bekannt zu machen (Apg 2:36, Kol 1:27f), erhört sie Jesus sofort. Und so geschieht das zweite Wunder, als Christus das göttliche Allmachtswort "Komm her!" spricht und auch Petrus über das Wasser gehen lässt; den Blick auf seinen Herrn, Christus, gerichtet und geradewegs auf Ihn und Seine Gegenwart zusteuernd.

30-31 Doch der peitschende Sturm gewinnt Petrus' Aufmerksamkeit und so gleitet sein Blick ab von Christus, dessen Wort ihn in dieser lebensbedrohlichen Lage trägt und richtet sich auf die Gefahr. Angesichts der tosenden Gewalten jedoch bleibt dem Menschlein Petrus nichts, als blankes Entsetzen und Angst um sein Leben. Solange er seinen Blick auf Christus, seinen Heiland gerichtet hielt, wurde er von dessen Wort getragen. Doch sobald er seinen Blick von Ihm abwandte, hin auf die Bedrohung seines Lebens, dominierte die Angst vor der Gefahr über das Vertrauen auf Christi Wort - und Petrus begann zu sinken. In mitten der Naturgewalten schreit er nun, obwohl er schwimmen kann (siehe Joh 21:7) in seiner höchsten Not zu Christus um Hilfe. Und in Seiner Liebe und Gnade hilft ihm Christus, trotz seiner Zweifel, auf der Stelle. Und Er fragt Petrus, nicht als Vorwurf, sondern in freundlicher Anteilnahme, nicht aus Mangel an Wissen, sondern aus seelsorgerlicher Sorge und mit dem Ziel der Selbsterkenntnis nach dem Grund seines Zweifels. Und so bewegt Er Petrus, in den Abgrund seiner Geschichte und seines Herzens zu blicken, um dort die Antwort auf die Frage nach dem Grund seiner tiefsten Ängste zu finden.

32 Das dritte und vierte Wunder geschehen, so berichtet uns Johannes (Joh 6:21), als Jesus und Petrus ins Boot treten: Jesus bringt sie augenblicklich und sicher an Land und der Sturm beruhigt sich. Angesichts all dieser Wunder und der Hilfsbereitschaft Christi sind die Jünger jedoch überrascht, ja sie fürchten sich gar. Denn ihr Herz ist noch immer hart und verschlossen und hat, trotz der fürsorglichen und allmächtigen Speisung der 5.000 nichts von dem wunderbaren Wesen und barmherzigen Herzen Christi verstanden (Mk 6:51f).

33 Eines aber haben sie verstanden und das schon vor dem Bekenntnis Petri (Mt 16:16): das Jesus der Christus ist, der ewige Sohn Gottes.


Praktische Anwendung

1. Wir dürfen getrost sein und wissen: Auch wenn Christus in der Not in die Er uns schickt ferne zu sein scheint: Er hat uns fest im Blick und betet für uns!

2. Unsere Angst verstellt uns oft den Blick auf das wahre Wesen Jesu, doch Er gibt sich uns zu erkennen als der Allmächtige, unser Erlöser und Freund

3. In der Not trägt uns alleine Gottes Wort und der feste Blick auf den sich darin offenbarenden Christus, der uns rettet, selbst wenn wir zweifeln


[Predigt als MP3]




(1) mit 212m unter dem Meeresspiegel http://de.wikipedia.org/wiki/See_Genezareth

(2) Die
vierten Nachtwache ist laut römischer Zeitrechnung von 3 Uhr nachts bis 6 Uhr früh - die Jünger hatte Jesus jedoch schon vor dem Abend (also vor Beginn der ersten Nachtwache um 18 Uhr) von sich fortgeschickt: http://www.die-roemer-online.de/index.html?%2Fverschiedenes%2Fkalender.html