Sonntag, 1. Juli 2012

Das egozentrische Dilemma

Von Kelly M. Kapic - Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Künnemann


"Denn die Menschen werden viel von sich halten, 
geldgierig sein, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, 
den Eltern ungehorsam, undankbar, gottlos, lieblos, 
unversöhnlich, verleumderisch, zuchtlos, wild, 
dem Guten Feind, Verräter, unbedacht, aufgeblasen. 
Sie lieben die Wollust mehr als Gott; 
sie haben den Schein der Frömmigkeit, 
aber deren Kraft verleugnen sie; 
solche Menschen meide!" 



Wer ist das Zentrum Deines Lebens? Ist Deine Antwort Jesus, oder sind es Deine Kinder, Deine Freunde oder Dein Ehepartner? Was wäre, wenn ich Dir sagen würde, dass die Antwort auf diese Frage "Du!" lautet? Und was wäre, wenn ich Dir sagen würde, dass das OK ist? Lasst uns klarstellen: die Frage ist nicht, ob Du das Zentrum Deines Universums bist - das bist Du. Das ist, was Philosophen und Psychologen manchmal das egozentrische Dilemma nennen. Einfach ausgedrückt, wir können uns selbst nicht entkommen. Was immer wir fühlen, denken, sprechen oder glauben, es sind wir, die das Fühlen, Denken, Sprechen oder Glauben besorgen. Wenn wir mit Gott, anderen und der Welt in Beziehung treten, ist unser Referenzpunkt unausweichlich unser Ego.

Nun, hier ist die 'Überraschung': Für diese Art der "Selbstzentriertheit" müssen wir nicht umkehren. Stattdessen müssen wir erkennen, wie sehr wir von einer schwachen Schöpfungslehre beeinflusst sind. Ein Geschöpf zu sein, einschließlich unserer Endlichkeit und Besonderheit, ist ein Geschenk Gottes. Zu versuchen, uns selbst zu "entkommen" und irgendein anderes "Zentrum" zu haben, kann leicht in eine abstrakte Form der Spiritualität abgleiten, die unsere Geschöpflichkeit untergräbt. Das "Ich" vollständig zu verleugnen bedeutet aufzuhören zu existieren. Lasst uns vorsichtig sein mit unserem fromm-klingenden Gerede, das unsere Menschlichkeit untergräbt, denn sobald dies geschieht, wird aller Rat über die Heiligung und Umgang mit Sünde schief und letztendlich selbst-zerstörerisch für einen Christen. Wir sind nicht gerufen, uns für unsere Menschlichkeit zu entschuldigen, oder von ihr umzukehren.

Doch es existiert eine andere Art von "Selbst-Zentriertheit" die zerstörerisch ist und von der wir ganz sicher umkehren müssen. Das ist, was wir Egozentrik nennen. Den Unterschied zwischen geschöpflicher Selbst-Zentriertheit und sündigem Egozentrik zu kennen, kann uns helfen in Gnade und Wahrheit zu wachsen. Und es mag dazu führen, dass wir die Spülmaschine für unseren Ehepartner etwas öfter leeren.

Sünde erzeugt eine Perversion unserer geschöpflichen Selbst-Zentriertheit, so dass wir annehmen, wir seien nicht allein das Zentrum unserer eigenen Welt, sondern wir wären tatsächlich das Zentrum der Welt aller anderen. Wir vergessen, dass wir Teil der majestätischen und miteinander verbundenen Schöpfung sind und engstirnige und zerstörerische Egozentrik ist das Ergebnis. Wir sind noble und glorreiche Geschöpfe, geschaffen nach Seinem Bilde, doch wir sind nur Teil dieser Schöpfung; wir sind nicht deren Gesamtsumme. Obwohl es wahr ist, dass wir unentrinnbar das Zentrum unserer eigenen Welt sind, ist es ein großer Unterschied zu sagen, wir seien das Zentrum der Welt. Nur der Dreieine Schöpfer wird zu Recht als das Zentrum des Universums angesehen, denn es ist Seine Schöpfung: Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. (Rö 11,36).

Hier ist also das Dilemma: Auf der einen Seite können - und sollen - wir es als Geschöpfe nicht darauf anlegen, unserem "Selbst" zu entkommen. Auf der anderen Seite, ist unser "Selbst" durch die Sünde verbogen worden und wir stehen nicht mehr in der richtigen Beziehung zu Gott oder dem Rest Seiner Schöpfung. Aufgrund unserer Sünde sind wir, mit in einem Wort gesagt, egozentrisch. Die Sünde hat beeinflusst, wie wir denken, fühlen und begehren. Infolgedessen versuchen wir das Werk der Hände Gottes zu verbiegen, um unserem eigenen egoistischen Verlangen zu dienen. Nehmen wir wenn wir autofahren nicht an, dass unser Zeitplan der Wichtigste ist in Gottes Welt? Wenn wir versäumen, andere zu sehen und zu wertschätzen, offenbaren wir eine verdorbene Selbst-Zentriertheit, die den Schöpfer und Seine Schöpfung unterminiert. Dabei frisst diese Selbstsucht unser eigenes Leben. Die ganze Schöpfung war darauf angelegt, die Güte des Schöpfers zu genießen, Ihn als Herrn und Schöpfer aller Dinge anzubeten. Konsequenterweise sollte jedes Teil alle anderen Teile schätzen und lieben. Eine unheimliche Seite der Sünde ist, dass sie uns in uns selbst gekehrt hat. In beunruhigender Weise handeln wir subtil so, als wären wir der Schöpfer, statt das Geschöpf, als ob alle Dinge allein für uns gemacht seien.

Doch hier entdecken wir auch die christliche Hoffnung. Wenn Gott Sein Volk befreit, beginnt Er auch uns Einklang mit dem zu bringen, wie Er uns ursprünglich für uns zu leben geplant hatte. Der Schöpfer-Gott ist auch der Neu-Schöpfer. Als solche, die durch Christus erlöst und in der Kraft Seines Geistes freigesetzt sind, sehen wir, wie unsere Welt beginnt, sich zu verändern. Während die Sünde uns fortwährend nach innen verbiegt, so dass wir von uns selbst verzehrt werden, zieht uns das Evangelium wieder zurück zu einer angemessenen Liebe für den Schöpfer und Seine Schöpfung.

Getränkt in der Liebe des Vaters, der Gnade des Sohnes und der starken Gemeinschaft des Heiligen Geistes, sind wir ermächtigt, uns in Gottes Vergebung zu sonnen. Wir sind befreit, andere zu lieben, nicht nur uns selbst. Während sündige Selbst-Zentriertheit dazu tendiert, das Individuum und Beziehungen zu unterminieren, schafft es die lebensspendende Kraft Gottes, das Individuum und Beziehungen wieder herzustellen. Wir hören auf, uns ausschließlich um unsere Welt zu sorgen und beginnen, uns um Gottes Welt zu kümmern, die Welt, die Er so liebte, dass Er seinen einzig geborenen Sohn für sie gab (Johannes 3,16).

Um biblisches Vokabular zu bemühen, ist die Frage nicht, ob Du ein "Selbst" hast, sondern ob es das "Neue Selbst" oder das "Alte Selbst" ist, das Dich regiert. (Eph 4,20, 1Kor 5,7). Wie Paulus an die Kirche in Kolossä schreibt, "belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Werken ausgezogen und den neuen angezogen, der erneuert wird zur Erkenntnis nach dem Ebenbild dessen, der ihn geschaffen hat." (Kol 3,9-10). Andere zu belügen ist nur annehmbar, wenn Du glaubst, dass Du mehr wert bist, als die anderen, was eine gefährliches Missverständnis der Schöpfung ist.

Wenn Gott uns ein neues Selbst gibt, sind wir dazu befreit, den Schöpfer als Allmächtigen Herrn anzubeten, was uns ermöglicht, das alte Selbst und seine von Eigeninteresse und Selbstschutz verunreinigten Gewohnheiten hinter uns zu lassen. Als die, die in Christus freigesetzt sind, sind wir frei, Gott und Nächsten zu lieben und das Gute der Anderen zu suchen, selbst wenn es uns selbst etwas kostet. Das alte Selbst praktiziert eine verdrehte Selbst-Liebe, die letztendlich zur Selbst-Zerstörung führt, wohingegen das neue Selbst eine kreuzförmiges Leben praktiziert, welches darauf abzielt, das Leben und die Liebe Gottes zu den Menschen zu bringen, denen wir begegnen.

Paulus warnt in seinem zweiten Brief an Timotheus vor "den letzten Tagen", in denen diese pervertierte Selbst-Liebe sich immer mehr manifestieren wird: "Denn die Menschen werden viel von sich halten, geldgierig sein, prahlerisch, hochmütig, Lästerer, den Eltern ungehorsam, undankbar, gottlos, lieblos, unversöhnlich, verleumderisch, zuchtlos, wild, dem Guten Feind, Verräter, unbedacht, aufgeblasen. Sie lieben die Wollust mehr als Gott; sie haben den Schein der Frömmigkeit, aber deren Kraft verleugnen sie; solche Menschen meide!" (2Tim 3,2-5)

Indem wir diese Warnung umkehren, können wir aber auch sehen, wie Paulus sich Christen vorstellt, die für das Gute der Anderen leben. Gläubige sind dazu berufen, keine "Selbst-Liebhaber" zu sein, denn sie begreifen, dass sie zu Gott gehören und für Seine guten Absichten geschaffen wurden. In unserer sündigen Welt bedeutet das, dass wir von Christus dazu berufen sind, uns selbst für andere hinzugeben, auf dass sie die Kraft seiner Liebe durch uns erkennen mögen.

Wir gehören zu Gott und daher sind wir frei, den Schöpfer und Seine Schöpfung angemessen zu lieben. Denk noch einmal über die Kehrseite dessen nach, was Paulus oben sagt. Wir Christen sind frei, unser Geld an die wegzugeben, die in Not sind. Wir sind, sowohl unsere Endlichkeit, wie auch unsere sündigen Verdrehungen der Realität erkennend, frei, uns von der Arroganz zur Demut zu wenden. Wir sind frei dankbar zu sein, voller Respekt und Ehrerbietung für andere, weil wir anerkennen, dass alles was wir haben ein Geschenk von Gott ist. Wir sind frei, große Herzen zu haben, einen empathischen Sinn für andere zu kultivieren, deren Wohlergehen und Gutes zu suchen, wo wir an ihren Geschichten und Schmerzen teilhaben. Wir sind frei, Gott mehr zu lieben, als unser eigenes Vergnügen; darum sind wir befähigt, das Kreuz Christi aufzunehmen, Ihm zu folgen, unsere eigene Selbst-Sucht abzulegen und zuerst das Reich Gottes zu suchen und Seine Gerechtigkeit [siehe Mt 6,33 Anm. d. Üs.]. Wir sind frei von abstumpfender Religiosität (dem Schein der Frömmigkeit), welche oft in solcher Weise von Sünde spricht, dass wir zum Fokus werden, statt unseren Blick zu Christus und der verändernden Macht Seines Geistes zu erheben. Einfach gesagt, sind wir in Christus frei, den Schöpfer und Seine Schöpfung richtig zu lieben.

Frömmigkeit ruft uns nicht dazu auf, die Realität der des egozentrischen Dilemmas zu leugnen, sondern es ruft uns dazu auf, die Selbst-Sucht abzulegen. Gott widersteht den Hochmütigen. Wenn wir arrogant sind, vergessen wir, dass wir Geschöpfe sind und unsere Sünde macht uns anderen gegenüber "spöttisch" (Spr. 3,34). Doch Gott gibt den Demütigen Gnade, denn die Demütigen begreifen ihre Abhängigkeit von Ihm und anderen und sind daher aufmerksam und gnädig gegenüber denen, die sie umgeben (1Pe 5,5c, Jak 4,6). Wiewohl wir nicht in der Lage sein mögen, der geschöpflichen Realität des egozentrischen Dilemmas zu entkommen, können wir doch eine vom Geist bevollmächtigte Aufmerksamkeit und Nächstenliebe kultivieren. Lasst uns, während wir unseren Platz in Gottes Neu-Schöpfung einnehmen: schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn sein, das Gute der anderen noch vor uns selbst fördern und durch unsere Worte und Taten immer darauf abzielen, andere zum Dreieinen Schöpfer zurück zu ziehen, der allein uns von der dunklen Falle unserer Selbst-Sucht befreien kann (Jak 1,19, 1Pe 2,12). Also, auf geht's, lass den anderen Fahrer überholen und leere vielleicht sogar die Spülmaschine, wenn keiner hinschaut.

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Dr. Kelly M. Kapic ist Professor für Religionslehre am Covenant College in Lookout Mountain, Georgia. Er ist, zusammen mit Justin Borger, der Autor von God So Loved, He Gave: Entering the Movement of Divine Generosity.

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