Veröffentlicht
mit freundlicher Genehmigung von Ulrich Parzany. Quellennachweis: AUFATMEN 4/2012
Ich bin ziemlich weit in der Welt herumgekommen und kenne Länder, in denen man nicht weiß, was Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ist. Wie wunderbar, dann nach Hause zu kommen und zu wissen: „Mensch, du kannst alles machen, was du willst!“ Es gibt Rechtssicherheit, keine geheime Staatspolizei spioniert dir hinterher — wir haben alle Freiheit! Und alle Möglichkeiten. Wir leben in einem der reichsten Länder der Welt — aber wir nörgeln und klagen auch am meisten. Wir haben finanziell und organisatorisch alle Möglichkeiten. Alte und neue Medien — was hätte Paulus damit gemacht! Blitzschnell kommunizieren und Menschen erreichen können — unglaublich!
Der Sog der Postmoderne
Die Postmoderne ist durch vielerlei Attribute gekennzeichnet, aber
ich greife dieses heraus: „Du kannst privat alles glauben.“ Alles ist möglich.
Es gibt keine Wahrheit, die für alle gleich, gültig und verbindlich ist — außer diesem Satz. Intellektuell ist diese
postmoderne Konstruktion inkonsequent, doch wir leben sie trotzdem, denn der
Mensch ist nicht logisch oder konsequent. Du hast deine Wahrheit, ich habe
meine Wahrheit — es gibt keine Wahrheit für alle. Das einzige Gesetz in unserer
Gesellschaft: Du darfst alles glauben, du darfst auch alles sagen, solange du
das als deine private Wahrheit erklärst und solange du nicht behauptest, sie
gilt für alle. „Toll, wie der an Jesus glaubt, so einen Glauben möchte ich
haben!“ Da kannst du die absurdesten Dinge glauben und du wirst bewundert.
Wenn du allerdings sagst: „Es gibt eine Wahrheit, ob es dir passt
oder nicht, die gilt auch für dich“ oder wenn du für den Satz Jesu einstehst:
„Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn
durch mich“, dann hast du das „Grundgesetz“ unserer Zeit verletzt und verdienst
keine Toleranz mehr, denn dann gefährdest du die Freiheit einer offenen
Gesellschaft. Das ist das Einzige, was nicht erlaubt ist.
Ich finde es traurig: Viele Christen in Mitteleuropa beugen sich
diesem Sog. Diesem sanften Druck, der kein Zwang ist und nicht von der Polizei
kommt — man wird höchstens ausgegrinst oder
als Fundamentalist beschimpft. Man beugt sich freiwillig und zieht sich in
vorauseilendem Gehorsam zurück in den privaten Winkel. Weil wir beliebt und
nette Leute sein wollen, überlassen wir die Öffentlichkeit den Gottlosen.
Freiwillig — das ist der Sog der Postmoderne.
„Evangelisation? Warum müssen wir denn diesen ganzen Aufwand
machen? Das kostet ja auch so viel Geld! Und das Geld kann man ja auch woanders
einsetzen.“ Und der Teufel freut sich, wenn wir die Öffentlichkeit den
Gottlosen überlassen — und ihr damit ja auch die Wahrheit vorenthalten, dass
Gott der Schöpfer und Erhalter ist, der Erlöser und der Richter und damit auch
der Retter aller Menschen.Die Frage der Toleranz
Was ist eigentlich Toleranz? Der Soziologe Prof. Ulrich Beck hat
eine Menge Bücher geschrieben, darunter „Der eigene Gott“. Wir leben in einer
Zeit, in der jeder seine eigene Religion bastelt, es gibt nicht mehr den einen
Gott, der für alle gültig ist. Das ist tolerant. Goethe war sehr kritisch:
„Toleranz heißt verachten“, sagte er, weil tolerant war man, wenn man bestimmte
Bürger auch leben ließ, aber sie waren Bürger zweiter Klasse. Etwa das
Toleranz-Patent des österreichischen Kaisers Josef II. Da bekamen Protestanten
und Juden die Erlaubnis, ihren Glauben leben zu dürfen, aber als Bürger zweiter
Klasse — was man bis heute in der Architektur in Österreich, Tschechien und
Ungarn wiederfindet: Ihre Kirchen durften keine Kirchtürme haben, die mussten
in die Fassaden eingebaut werden. Toleranz hieß: Du darfst leben — aber du hast
nicht die gleichen Rechte.
Lessing lässt in der Ringparabel „Nathan der Weise“ den Richter
sagen, er wisse nicht, welcher der echte Ring ist, deshalb sollten sich alle
bemühen, in der Liebe zu leben. Hier heißt die Logik: Wir beantworten die
Wahrheitsfrage nicht, weil man sie nicht beantworten kann — stattdessen bemühen
wir uns um Frieden. Genau das ist jetzt modern. Prof. Ulrich Beck sagt:
„Inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden kann, entscheidet über die
Fortexistenz der Menschheit.“ (Beck, „Der eigene Gott“) Den Frieden zu bewahren
in einer Gesellschaft oder zwischen Völkern ist also wichtiger als die
Wahrheitsfrage. Deshalb, so die Konsequenz, müssen wir die Wahrheitsfrage
aufgeben. Und wer das tut, sei „tolerant“.
Ich will hier genau definieren, was Toleranz ist. Es ist deshalb
so wichtig, weil die Kritiker — vor allem der monotheistischen Religionen — sagen:
„Wer behauptet, dass er die Wahrheit hat, der wird sie auch eines Tages anderen
mit Gewalt aufzwingen.“ Wie also definiert sich Toleranz? Ich zitiere einen der
klügsten deutschen Philosophen, Jürgen Habermas (1): „Wir brauchen nicht
tolerant zu sein, wenn wir gegenüber fremden Auffassungen und Einstellungen
ohnehin indifferent sind oder gar den Wert dieses ‚Anderen‘ schätzen ... Die
politische Tugend der Toleranz ist erst
dann gefragt, wenn die Beteiligten ihren eigenen Wahrheitsanspruch im Konflikt
mit dem Wahrheitsanspruch eines Anderen als ‚nicht verhandelbar‘ betrachten,
aber den fortbestehenden Dissens dahingestellt sein lassen, um auf der Ebene des
politischen Zusammenlebens eine gemeinsame Basis des Umgangs
aufrechtzuerhalten.“
Wenn einer gleichgültig ist gegenüber dem, was ein anderer glaubt
oder vertritt, dann ist das noch nicht Toleranz. Die bürgerliche Tugend der
Toleranz beinhaltet, zwei miteinander unvereinbare Erkenntnisse oder Haltungen
mit friedlichen Mitteln in einen — auch
öffentlichen — Diskurs zu bringen und einander nicht zur Einsicht zu zwingen. Habermas
betont, eine freie Gesellschaft lebe davon, dass Menschen klar und öffentlich ihre
Positionen vertreten und dafür eintreten und argumentieren und sich dazu
bekennen. Dass miteinander gerungen wird — aber eben im Frieden, ohne Polizei, ohne Terror,
ohne Gewalt. Das ist Toleranz.
Eine freie Gesellschaft, eine Demokratie, lebt davon, dass gegensätzliche
Positionen ausgetragen werden.
Deswegen ärgere ich mich, wenn Leute schimpfen, dass im Parlament
gestritten wird. Ich meine: Wenn die nicht mehr öffentlich streiten, sondern in
Hinterzimmern still mauscheln, dann ist Gefahr im Verzug! Es muss eine öffentliche
Diskussion sein, sie darf scharf sein, sie muss deutlich sein — aber friedlich,
ohne Gewalt.
Viele, die sich heute tolerant nennen, möchten doch viel eher,
dass ich als überzeugter Christ mich zurückziehe in meinen Hauskreis, in meinen
privaten Winkel — da kann ich glauben, was ich will. Aber ich sage: Nein, wir
müssen in die Öffentlichkeit! Ich möchte, dass Menschen demokratisch streiten.
Wir haben 450 Millionen Einwohner in Europa. Es kann uns doch nicht egal sein,
was die alles hören — oder eben nicht. Wir müssen in die Öffentlichkeit!
Verspielte
Glaubwürdigkeit
Die lange Geschichte der Verknüpfung von Staatsreligion mit Gewalt
hat uns in Europa die Glaubwürdigkeit des Evangeliums gekostet. Kritiker halten
uns Christen vor: ‚Heute seid ihr lammfromm, weil ihr keine Macht habt. Aber
als ihr sie hattet — die ganzen Jahrhunderte hindurch in der Staatsreligion — da
habt ihr die Leute, die anders dachten, ins Gefängnis gesteckt! Habt die Täufer
ersäuft (mit Zwinglis Zustimmung...) oder hinrichten lassen in Genf ... Ihr
habt Glaube mit der Polizei eingetrieben. Die ‚Ehe‘ von Thron und Altar ging
doch erst 1918 zu Ende!“
Westeuropa
ist der einzige Teil der Welt, in der die Gemeinde nicht wächst. Der einzige Teil,
wo man gewaltige Anstrengungen unternehmen muss, um überhaupt das Interesse der
Menschen zu gewinnen. Wenn ich in Asien oder in Afrika predige, schaue ich in tausende
erwartungsvolle Augen, die von Jesus hören wollen.
Wir haben
unsere Glaubwürdigkeit verspielt, weil wir versucht haben, das Evangelium mit Gewalt
aufzuzwingen. Das Evangelium verträgt nicht die Unterstützung von Regierungen.
Seine Kraft liegt in der Autorität der Hingabe und Liebe, nicht im langen Hebel
der Polizei, der Gewalt und der Gesetzgebung, mit dem wir anderen aufzwingen
wollen, wozu wir ihre Herzen nicht bewegen können.
Das ist eine schwierige Aufgabe heute — aber unsere Zeitgenossen haben ein Recht darauf, dass wir das Evangelium leben, das wir verkündigen. Wenn wir sagen, dass dieser Jesus die Schlüsselfigur und allein der Retter ist, dann werden sie prüfen, oh sie uns das auch abnehmen können. Es geht heute nicht um rhetorische Tricks, es geht auch nicht um methodische Raffinesse, sondern darum, dass wir das Evangelium, das wir verkündigen, selber auch leben!
The German Angst
Ein Kennzeichen der Reichen ist auch: Sie brauchen Gott nicht. Sie kommen auch so im Leben zurecht. Manche Reiche sind wie der reiche Jüngling in der Bibel. Das kann ja eigentlich noch nicht alles gewesen sein, empfinden sie. Sie suchen den spirituellen Mehrwert, sind durchaus offen für Religion, Sicherheit und Anerkennung, ausschließlich begründet in ihrem Reichtum, sind nicht befriedigend genug; jetzt suchen sie zur Erfüllung auch noch Glauben an Gott. Daran scheitert der reiche Jüngling. Er war reich, klug, hatte die Gebote Gottes gehalten, Jesus bestätigt das. Als Jesus aber den Gottestest macht: „Verkaufe, was du hast, und komm und folge mir nach“, da kapiert er: Der Reichtum ist mein Gott, das ist mein Fundament, davon will ich nicht lassen.
Das ist Unser Problem! Es geht immer um Gott oder Mammon. Das Christentum Europas ist der Versuch, über zweitausend Jahre zu beweisen, dass Jesus nicht Recht hat mit seinem Satz: „Der Mensch kann entweder Gott dienen oder dem Mammon.“ Wir haben versucht zu zeigen, dass man beides miteinander vereinbaren kann. Aber man kann es nicht! Das ist der Grund, warum Menschen, obwohl sie spirituelle Sehnsucht haben, nicht umkehren. Es geht um das erste Gebot, dass ich breche mit den Götzen: Mit dem Geld, meinem Vermögen, das mir Sicherheit und Anerkennung gibt. Dass ich mich bekehre zu Jesus. Aber da hört der Spaß auf, da geht der Mann traurig davon. Diese Geschichte passiert bei uns tausendfach.
Wenn man weiter liest bei Lukas kommt bald danach Zachäus. Sein Vermögen war betrügerisch und unrecht erworben, ein schlimmer Reichtum. Und der wird nun der Sonne der Barmherzigkeit Gottes ausgesetzt. Ohne dass ihm Jesus die Leviten liest — worüber sich die Religiösen empören — sagt Zachäus: ‚Die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen, und wo ich betrogen habe, gebe ich vierfach zurück. Da sehen wir: Bei den Menschen ist es unmöglich, bei Gott aber sind alle Dinge möglich. Wer meint denn ernsthaft, es gäbe eine Methode, erfolgreicher zu sein als Jesus? Er musste mit ansehen, wie der reiche junge Mann wegging. Und trotzdem, trotzdem gilt allen die Botschaft von Jesus.
Raus aus den Gettos
Das Recht, gehört zu werden
Zur Zeit und Unzeit
„Wir können es nicht lassen, dass wir reden von dem, was wir gehört und gesehen
haben. Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!“
Und dafür werden sie verprügelt und bedroht. Aber sie kommen fröhlich in die Gemeinde, weil sie wertgeachtet waren, für Jesus einzustehen. Betete die Gemeinde dann: „Herr, schütze uns vor diesem Druck“? Nein, sondern: „Gib deinen Knechten mit Freimut zu reden dein Wort!“ Das ist ihr Gebet. Egal, ob Druck oder Sog: Das sollte auch unser Gebet sein.
Ulrich Parzany ist Pfarrer und Evangelist. Er
lebt mit seiner Frau in Kassel.
Vom 3.-10. März 2013 findet ProChrist mit Live-Übertragung
in der Porsche-Arena, Stuttgart, statt.
Teilnahme und Information: www.prochrist.org
(1) Zitat
Jürgen Habermas aus „Wann müssen wir tolerant sein? Über die Konkurrenz von
Weltbildern, Werten und Theorien“. Berlin-Brandenburgische Akademie der
Wissenschaften am 29. Juni 2002